Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
einen Todesfallermittler und einen Vertreter des GPFW auf: Officer M. P. Macon. Derselbe Aufseher, der mich heute herumgeführt hat.
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Die im vorläufigen Autopsiebericht aufgeführte Todesursache lautet unbekannt . Dasselbe gilt für die Art und Weise des Eintretens. Unbekannt . Und wieder: unbekannt . In der Forensik ist das ein Schlag ins Wasser.
Allerdings kann ich ziemlich hartnäckig sein, wenn ich die Antwort nicht finde. Ich weiß, dass es immer eine gibt. Allerdings müssen Rechtsmediziner wie Colin Dengate und ich uns auch hin und wieder unser Scheitern eingestehen. Die Toten verraten uns nicht, was wir wissen müssen, sodass uns nichts anderes übrig bleibt, als mit der plausibelsten medizinischen Erklärung aufzuwarten, auch wenn wir selbst nicht ganz daran glauben. Dann geben wir die Leiche und die persönliche Habe des Verstorbenen frei, damit die Hinterbliebenen Verwaltungsangelegenheiten erledigen, Versicherungen einlösen, die Beerdigung planen und weiterleben können. Nur dass Barrie Lou nach ihrer Freigabe anonym in einem Armengrab bestattet wurde, weil niemand sie betrauerte oder die Freigabe der Leiche verlangte.
Zu guter Letzt hat Colin den Autopsiebericht ergänzt und auf plötzlichen Herzstillstand infolge eines myokardialen Infarkts aus natürlichen Ursachen erkannt, was nun auch auf ihrem Totenschein steht. Es war eine Ausschluss-Diagnose, basierend auf dem Vorhandensein einer Erkrankung der Koronararterie. Sechzig Prozent Beeinträchtigung der linken vorderen abwärtsführenden Arterie. Zwanzig Prozent bei der rechten, einen Zentimeter vom Ostium entfernt. Die darum herum verlaufende Arterie war frei. Die Verurteilte wartete auf ihre Hinrichtung und begann laut Zeugenaussagen, irgendwann nach einer Henkersmahlzeit, bestehend aus einem Thunfischsandwich auf Roggenbrot, Kartoffelchips und Pepsi-Cola an Atemnot, Schweißausbrüchen, Schwäche und extremer Erschöpfung zu leiden – Symptome, die man als Panikattacke, ausgelöst durch die bevorstehende Exekution, deutete. Eine Panikattacke würde auch zu der unverdauten Nahrung passen, die Colin bei der Magenöffnung während der Autopsie entdeckt hat. Bei starkem Stress oder großer Angst setzt die Verdauung nämlich völlig aus.
Den Berichten zufolge starb sie um neunzehn Uhr fünfzehn an einem schweren Herzinfarkt, also knapp zwei Stunden bevor sie mit einer tödlichen Injektion hingerichtet werden sollte. Während ich weiter in ihrer Fallakte lese, steht Jaime in der Küche, redet und arrangiert dabei für jeden von uns das Essen auf einem der weißen Teller, die zum Inventar ihrer Mietwohnung gehören. Sie spricht über die Familie Jordan und will, dass ihre Verletzungen sowie andere Beweismittel und Informationen vom Tatort so gründlich und unwiderlegbar wie möglich interpretiert werden. Und dazu braucht sie meine Hilfe.
»Colin sollte dir ihre Verletzungen und alles Übrige erklären können«, halte ich ihr vor Augen. »Schließlich war er am Tatort und hat die Leichen obduziert. Er ist ein sehr kompetenter Forensiker. Hast du schon einmal versucht, mit ihm über die Fälle zu sprechen?«
»Eine Täterin. Lola Daggette. Akte geschlossen«, entgegnet Marino. »Mehr haben die hier dazu nicht zu sagen.«
Während Jaime die Weingläser holt, erinnere ich mich an Colins Verhalten, als er den Fall vor vielen Jahren auf dem Kongress in Los Angeles präsentierte. Der grausame Tod von Dr. Clarence Jordan und seiner Frau Gloria empörte ihn persönlich, und der Mord an den beiden kleinen Kindern, Brenda und Josh, ging ihm sichtlich nah. Damals hatte Colin die Meinung vertreten, dass nur eine einzige Person als Täterin in Frage käme – ein junges Mädchen, das wenige Stunden nach den Morden in einem Übergangswohnheim seine mit dem Blut der Opfer verschmierten Sachen ausgewaschen hat. Alle später entstandenen Theorien und Gerüchte, Lola Daggette könne einen geheimnisvollen Komplizen gehabt haben, seien von der Verteidigung frei erfunden, höre ich ihn noch sagen.
»Ich war vor ein paar Wochen bei ihm im Labor«, erwidert Jaime. »Er ist nicht einmal aus seinem Büro gekommen, um mich zu begrüßen. Und als ich zu ihm hineinging, ist er auch nicht hinter dem Schreibtisch aufgestanden.«
»Du kannst ihn nicht zwingen, nett zu dir zu sein. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass er einer Anwältin absichtlich Informationen vorenthält«, erwidere ich. Am liebsten jedoch würde ich Jaime erklären, dass sie eben Jaime ist.
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