Blut für Blut: Thriller (German Edition)
Herzen gefolgt ist. Sie hat es sich erlaubt, Dinge zu tun, die ich mir nicht gestattet habe. Wie soll ich das erklären? Vater und Mutter haben erwartet, dass wir beide Architektinnen werden, wir konnten als Kinder beide gut zeichnen. Aber das wollte Kissi nicht; schon als sie noch ziemlich klein war, hat sie erklärt, dass sie Sozialarbeiterin werden wollte. Unsere Eltern sind aus allen Wolken gefallen, vor allem Vater, aber Kissi hat ihn einfach umarmt und gesagt: Warte es ab, Papa, alles wird gut. Und das ist es ja auch. Es ging über alle Maßen gut, und Vater war stolz auf sie, wohingegen ich alles getan habe, was er sich gewünscht hat: Ich bin Architektin geworden, habe in seinem Büro gearbeitet, bin in seine Fußstapfen getreten … Er hat es einfach nicht gesehen, er hat mich einfach nicht gesehen.«
Karen Schacks Stimme zitterte leicht vor Aufregung, und Rebekka tat die Frau leid, die so offensichtlich nach der Anerkennung ihrer toten Eltern gestrebt und diese nie bekommen hatte.
»Sie haben gemeinsam ein Sommerhaus?«, fragte Reza, und Karen Schack sah ihn zunächst verwirrt an, dann zog sich ihr Mund zu einem langen, schmalen Strich zusammen.
»Das haben Ihnen bestimmt Jerome und Liam erzählt. Ja, es stimmt, dass uns ein Haus zusammen gehört. Ein großer Bauernhof in Tjörnap in Schonen. Der Bauernhof gehört der Familie meiner Mutter seit knapp hundert Jahren, sodass er mit vielen Erinnerungen verbunden ist, wie Sie sich vorstellen können.«
Karen Schack zog intensiv an ihrem Zigarillo.
»Wir mögen den Ort beide sehr, man ist in nur wenigen Stunden von Kopenhagen aus dort. Leider hat es viele Streitereien um das Haus gegeben. Wer es wann nutzen durfte und so weiter. Sehen Sie, ich habe keine Kinder, und Kissi war der Ansicht, dass ihre Kinder, Thomas und Marie-Louise, das Haus jederzeit nutzen dürften. Ich meinte dagegen, dass wir das Haus in ihre und meine Wochen aufteilen sollten, dann könnte sie in ihren Wochen das Haus an wen auch immer ausleihen. Kissi fand meinen Standpunkt rigide, und das hat sie bestimmt auch jedem erzählt, der es hören wollte. Liam liebte es besonders, von unseren Schwierigkeiten zu hören.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er mich nicht besonders mag. Jerome ist mir gegenüber mit der Zeit auch reservierter geworden. Als er und Kissi verheiratet waren, hatte ich das Gefühl, dass wir ein sehr gutes Verhältnis zueinander hatten, doch das hat sich leider geändert, als Liam auf der Bildfläche erschien. Ich habe keine Ahnung, warum. Und ich muss gestehen, dass ich die beiden auch nicht ausstehen kann, vor allem Liam nicht. Bei ihm bekomme ich immer eine Gänsehaut. Kissi mochte ihn auch nicht sonderlich, aber wenn ich etwas Negatives über ihn gesagt habe, hat sie es bagatellisiert. Sie hat Jerome ja immer noch geliebt, sie ist nie darüber hinweggekommen, dass er sie verlassen und sich als homosexuell geoutet hat.«
»Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihrem Neffen, Thomas, und Ihrer Nichte, Marie-Louise?«
»Gut. Ich habe mich bemüht, ihnen eine gute Tante zu sein, die beiden sind hier immer willkommen, ich habe ja selbst keine Kinder. Marie-Louise ist etwas verschlossen, vorsichtig, wenn man so will, und ein bisschen langweilig, wenn ich ehrlich sein soll – wohingegen Thomas sehr viel zugänglicher ist. Er ist unglaublich charmant.« Karen Schack lächelte, als sie ihren Neffen beschrieb, trank einen Schluck Tee und fuhr fort: »Thomas ist mein Augenstern. Ich weiß sehr wohl, dass man so etwas nicht sagen soll, weder als Elternteil noch als Tante, aber so ist das nun mal. Er ist, wie gesagt, sehr charmant, und er kann mich um den kleinen Finger wickeln. Das Gleiche traf auf Kissi zu. Wenn sie von ihm sprach, ging ein Licht in ihren Augen an. Er war ein Mutterkind, das am liebsten immer an ihrem Rockzipfel gehangen hätte, und ab und zu hat es sie schon gequält, dass sie so mit ihrer Karriere beschäftigt war, als die Kinder klein waren. Für ihn muss es jetzt schlimm sein.« Karen Schacks Stimme zitterte vor Erregung.
»Wie hat Marie-Louise die unterschiedliche Behandlung aufgenommen?« Rebekka spürte bei dem Gedanken, dass die Frauen der Familie Schack ein Kind so offensichtlich bevorzugt hatten, Wut in sich aufflammen. Sie verschränkte die Hände fest ineinander, während lose Bruchstücke ihrer eigenen Vergangenheit vor ihren Augen vorbeiflimmerten. Robin war zwei Jahre jünger gewesen als sie und der absolute Liebling
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