Blut im Schnee
Neues?“
„Allerdings.“ Enriques Gesichtsausdruck wirkte verschlossen und ernst. Er zog Jacke und Schuhe aus, ehe er Thorsten ins Wohnzimmer folgte.
„Setz dich, fühl dich wie zu Hause“, lud Thorsten ihn ein, worauf Enrique fragend eine Braue hochzog.
„Wir müssen nicht jedes Mal auf den Stühlen sitzen“, erklärte Thorsten, worauf Enrique sich wortlos auf das Sofa setzte.
„Tee?“
„Nein. Zuerst müssen wir reden.“
Thorsten stockte und setzte sich schließlich ebenfalls.
„Was ist los?“
„Thorsten, ist deine Ex Krankenschwester?“
„OP-Schwester, warum?“
Enrique nickte nachdenklich. „Was ist dein letzter Stand bezüglich Arbeitsplatz und Wohnort?“
„Was hat das denn jetzt wieder mit den Morden zu tun?“
„Bitte, es ist wichtig.“
„Okay. Sie hat die Wohnung in Köln behalten, die wir zusammen bewohnt haben. Gearbeitet hat sie in einer Klinik in der Stadt, jetzt frag mich aber nicht, wie diese hieß – da komme ich grad nicht drauf.“
Enrique nickte erneut. „Als ihr geheiratet habt, nahm sie deinen Namen an, richtig? Hat sie ihn nach der Trennung behalten?“
„Ich glaube nicht. Sie hat nicht mal mehr mit mir gesprochen, warum also sollte sie weiter meinen Namen tragen?“
„Dachte ich mir. Kannst du sie mir beschreiben?“
„Hä?“, Thorsten verstand nicht, worauf Enrique hinauswollte. Glaubte er tatsächlich, Kathrin hätte etwas mit den Angriffen zu tun?
„Ist sie schlank oder kräftig?“, hakte Enrique nach.
„Schlank. Bei ihrer Größe … die perfekte Figur. Lange Beine, schmale Taille und lange Haare. Eigentlich eine Traumfrau. Mit ein paar Zentimetern mehr hätte sie auch gute Chancen als Model gehabt.“
„Dann ist sie es nicht“, murmelte Enrique.
„Was?“ Thorsten verstand nun gar nichts mehr.
„Die Polizei hat deine Ex zur Fahndung ausgeschrieben. In der Klinik, in der das Midazolam verschwunden ist, arbeitete zu dem Zeitpunkt auch eine Kathrin Jäckels. Sie hatte Zugriff zum Medikamentenvorrat. Ihr Bruder wurde verhört, weil er von diesem Zimmermann belästigt wurde. Das ist der religiöse Spinner.“
„Was wollte der denn von Stefan? Das ist ein ganz ruhiger. Wie Kathrin eigentlich ein netter und hilfsbereiter Mensch.“
Enrique winkte ab. „Weil der Zeuge des letzten Angriffs mit hundertprozentiger Sicherheit sagte, der Angreifer war eine Frau, blieb nur eins und eins zusammenzuzählen. Kathrin war alles andere als glücklich über dein Outing, wie du selbst sagtest. Das Betäubungsmittel verschwand in der Klinik, wo sie gearbeitet hat. Dann hat sie gekündigt und mein Informant sagte, die Nachbarn hätten sie seit Wochen nicht gesehen. Es spricht also einiges gegen sie.“
„Du willst mich auf den Arm nehmen! Sie ist ein Püppchen und OP-Schwester aus Überzeugung, um Menschen zu helfen.“
„Was heißt, sie besitzt Kenntnisse in der Anatomie. Leider kommt sie – zumindest für den letzten Angriff – nicht infrage, es sei denn, sie hat deutlich zugenommen, seit du sie zuletzt gesehen hast.“
„Nie und nimmer. Kathrin hat sehr viel Wert auf ihr Gewicht und ihre Figur gelegt. Zwei Mal die Woche war sie im Fitnessstudio, ging täglich laufen.“
„Du traust ihr weiterhin nicht zu, dass sie die Täterin ist“, stellte Enrique fest.
„Ich glaube einfach nicht, dass sie dazu in der Lage wäre. Auch nicht ihr Bruder Stefan. Der hat eine Zeit lang als Betreuer in einem Behindertenheim gearbeitet.“
Auf diese Erklärung hin schwieg Enrique einige Zeit. Thorsten begann sich unwohl zu fühlen, weil dieser seine Blicke nicht von ihm abwandte. An seiner Mimik war nicht auszumachen, was er dachte oder empfand. Er wirkte neutral, so zumindest Thorstens Eindruck. Doch trotz dieser Haltung lag eine Spannung zwischen ihnen in der Luft, die Thorsten unruhig werden ließ. Während Enrique dort saß und grübelte, wollte Thorsten Tee aufbrühen. Einfach nur da sitzen und dem anderen beim Denken zuzusehen, war nicht das Gelbe vom Ei. Zudem hoffte er, die Stimmung zwischen ihnen würde sich verändern, wenn er auf Abstand ging. Also stand er auf und fragte gar nicht erst, ob Enrique eine Tasse wollte.
Während der Wasserkocher seine Arbeit tat, dachte Thorsten über Enriques Worte nach. Es war unvorstellbar, ja beinahe lächerlich, dass Kathrin zu solchen Taten imstande wäre. Niemals. Sie hatte bei jedem sinnlosen Tod zu kämpfen gehabt. Wenn sie auf dem Tisch einen Patienten verloren, brauchte sie Tage, um damit klarzukommen.
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