Blut Licht
Änderung ist Fortschritt, Stehenbleiben bedeutet Rückschritt.“
„Denkst du, ich wäre in meiner Entwicklung stehengeblieben?“, versuchte ich ihre doch recht kryptische Antwort zu deuten.
Sie lachte leise und schüttelte mit dem Kopf. „Nein, nicht du, Faye. Du hast dich so sehr verändert, dass selbst deine Mutter dich nicht wiedererkennen würde, wenn du ihr heute gegenübertreten würdest. Zumindest ist es mein Empfinden. Nein, ich sprach nicht von dir.“ Ein Lächeln folgte, dann reagierte sie auf den Unmutslaut meiner Tochter und gab ihr einen weiteren Löffel voll Brei.
„Von dir kann man ebenfalls kaum behaupten, dass du dich nicht verändert hättest. Ich muss da nur an unser erstes Treffen im Flur vor dem Apartment denken.“
„Oh mein Gott, erinnere mich nicht daran.“ Ihre Hand tätschelte
meine und über ihre Miene flog ein vergnügter Ausdruck. „Lockenwickler und geblümte Morgenmäntel gehören nun wirklich der Vergangenheit an. Nicht auszudenken, was dein Vater machen würde, wenn ich ihm so entgegenkommen würde. Möglicherweise noch mit einer Gurkenmaske im Gesicht.“
„Ich würde schreiend rausrennen und für die Neueinführung der Inquisition stimmen“, kam es von der Tür her. Dann stand Dad neben mir, beugte sich mit blitzenden Augen vor und gab Ernestine einen Kuss, der an Zartheit kaum zu überbieten war.
Schlagartig kam ich mir überflüssig vor. Es war kaum zu übersehen, dass Dad und Ernestine sich gesucht und gefunden hatten, dass sie glücklich waren und eine Verbindung zueinander hatten, die selten und kostbar war. Meine Anwesenheit fühlte sich wie eine Störung an. Eine Störung dieser Harmonie, zumal ich mich innerlich mit Gedanken beschäftigte, die alles andere als harmonisch waren.
„Ich wollte dich auf einen Spaziergang entführen, Ernie“, vernahm ich das leise Murmeln meines Vaters. „Was meinst du, wollen wir zwei uns fortstehlen?“
Sie setzte ein nachdenkliches Gesicht auf und ich war schon geneigt, ihr zuzureden, als sie verstohlen zwinkerte. „Was hältst du davon, wenn wir die Kleine mitnehmen und so deine Tochter etwas entlasten?“
„Das ist nicht nötig, Ernestine“, wehrte ich ab, wurde jedoch sogleich von Dad unterbrochen: „Ach was. Das machen wir gern. Ich habe mich schon lange darauf gefreut, den Kinderwagen schieben zu dürfen.“
„Dann ist es beschlossen. Wir kümmern uns um Lilianna und du nimmst dir frei, bis eure Gäste eintreffen“, entgegnete Ernestine mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete. Folglich gab ich mich geschlagen: „Also gut. Ich kann ja nachsehen, ob ich Darian zur Hand gehen kann.“
„Das lass lieber bleiben“, warf Dad ein und erhielt meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Für einen Moment druckste er herum, dann zuckte er mit den Achseln. „Ach, was soll’s. Du hast ja selbst bemerkt, dass er momentan leicht gereizt ist. Er hat mich aus seinem Umfeld verbannt, damit ich ihm nicht vor den Füßen herumstehe. Weiß einer, was er hat. Aber egal. Du solltest ihn derzeit vielleicht besser meiden, Kind.“
Dann war es ihm also auch aufgefallen. Mein Blick suchte Ernestine, die mich anlächelte und lautlos das Wort „Veränderungen“ formte. Ich nickte. Das hatte ich verstanden.
Ich erhob mich, gab den drei Anwesenden jeweils einen Kuss und trollte mich. Im Flur lief ich Eileen über den Weg, die meine Idee, ihr bei der Hausarbeit helfen zu wollen, als absurd ablehnte. In Darians geräumigem Büro half mir der Laptop nur kurz über das aufkeimende Gefühl der Beschäftigungslosigkeit hinweg. Eine Mail von Peter, meinem ehemaligen Chef bei National Geographie, in der er sich nach meinem Befinden erkundigte und Grüße von seiner Frau Gloria übermittelte. Ich tippte zwei belanglose Zeilen und schickte sie ab. Die Spammails wurden sofort gelöscht, dann war mein Postfach leer. Einen Augenblick noch saß ich vor dem Laptop, dann schaltete ich ihn aus und erhob mich. Eine lange nicht mehr gekannte Ruhelosigkeit hatte Besitz von mir ergriffen. Bevor ich Darian begegnet war, hatte ich in diesen Momenten meine Laufschuhe gegriffen und war gerannt, bis ich nicht mehr konnte. Doch heute war mir nicht danach. Ehrlich gestanden wusste ich nicht einmal, was ich überhaupt wollte. Nach Monaten war mir die Möglichkeit gegeben zu tun, was mir gefiel - und ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich mit mir anfangen sollte. War das nicht paradox?
Ohne es bemerkt zu haben, fand ich mich im Foyer wieder.
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