Blut Schatten
bist du?«, stellte ich spontan die Frage in den Raum und erhielt eine Antwort, mit der ich niemals gerechnet hätte.
Ein neues Bild blitzte auf, direkt vor mir, als wäre diese gleißende Fläche eine Kinoleinwand. Eine Gestalt, unbekleidet und von eindeutlich männlicher Statur. Sie lag auf den Knien und hatte den Rücken gebeugt. Ihre Hände waren in schwere Eisenketten gelegt, deren Enden an den Seiten herunterhingen. Ihr Gesicht war hinter einem Schleier langer, blonder Haare verborgen. Etwas Helles, Strahlendes trat sehr langsam aus ihrem Rücken hervor, entfaltete sich und breitete sich aus. Es lief wie in Zeitlupe ab, und gebannt starrte ich auf dieses bewegliche Bild. Bedächtig hob die Gestalt nun ihren Kopf und wandte ihn in meine Richtung. Das lange Haar gab nur zögerlich einen Blick auf ihr Gesicht frei, doch als mich ihr Blick erfasste, schrie ich fassungslos auf.
Jäh war der Kontakt unterbrochen. Schockiert starrte ich Darian an, wich vor ihm zurück, kroch rückwärts und verließ den Lichtkreis.
»Nein«, flüsterte ich. Ich konnte das Bild nicht vertreiben, es hatte sich regelrecht in meine Netzhaut gebrannt.
»Was hast du gesehen, Faye?« Darian rutschte mir nach, Bestürzung im Blick. Er hielt inne, als ich abwehrend eine Hand hob.
»Nein, nicht.« Ich rappelte mich hoch, wich weiter zurück, wandte mich um und eilte hinaus. Raus aus dem Apartment, die Treppen hoch und rauf aufs Dach. Erst als dessen Begrenzung meiner Flucht ein Ende setzte, kam ich halbwegs zur Besinnung. Schnell trat ich vor dem Abgrund zurück, atmete tief durch und fuhr mir mit den Händen durchs Haar.
Die Vormittagssonne blendete, Smog hing in der Luft. Von unten drangen die Geräusche der Werkstatt zu mit herauf, in der Nähe erklang eine Autohupe. Ich roch den Hudson, glaubte ihn sogar an die Befestigungen schwappen zu hören. Und doch schien alles auf einmal so unendlich nebensächlich.
Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Ein Trugbild. Gewiss. Und doch hatte ich es gesehen. So, wie ich jetzt die Skyline Manhattans in der Herbstsonne vor mir sah. Oh Gott, was hatte er getan? Wen oder was hatte er da vernichtet? Konnte ein Vampir einen Engel vernichten? Die gepeinigte Verletzlichkeit dieser graublauen Augen würde nie wieder aus meinen Gedanken gelöscht werden können. Noch immer meinte ich diesen Blick auf mir zu spüren, und mit ihm das stumme Flehen.
Ich trat weiter zurück, berührte mit den Waden ein Hindernis und ließ mich auf dem Podest nieder. Den Kopf in die Hände gestützt, grübelte ich über das Gesehene nach, versuchte meine Gedanken zu sortieren. Mit einem Mal wurde mir mehr als deutlich, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wer Darian heute war, noch, was sein Wesen vor seiner Verwandlung oder als reiner Vampir ausgemacht hatte. Dieses Versäumnis musste ich dringend nachholen. Ich klopfte mir auf die Oberschenkel und sprang auf. Wenn mich nicht alles täuschte, hatte Alistair irgendwo alte Aufzeichnungen von Darians Wirken als gewissenloser Beißer. Die würde ich als Erstes genauer unter die Lupe nehmen. Es wäre doch gelacht, wenn ich da nicht ein paar verwertbare Hinweise finden würde. Zunächst einmal fand ich direkt hinter der Tür zum Dach die Person, um die sich mein ganzes Denken und Handeln drehte. Darians Hand lag auf der Klinke, als ich sie öffnete.
»Ja, ich habe mich beruhigt«, antwortete ich, bevor er eine Frage stellen konnte. Dabei schob ich mich an ihm vorbei und ergriff seine Hand. »Du wolltest Antworten auf Fragen, die bei mir nur weitere aufgeworfen haben. Lass sie uns gemeinsam finden.«
»Verrätst du mir, wie du das anstellen möchtest?«
Gemeinsam eilten wir die Stufen hinab und betraten den Flur des unteren Apartments.
»Recherche, Darian.« Ich eilte auf Alistairs Chaosstube zu und schob die Tür auf. »Es wird nicht ganz leicht werden, aber ich bin zuversichtlich.«
»Oh.« Zögernd trat er ein und blickte sich in Alistairs Durcheinander um. Dann lächelte er. »Vielleicht können wir bei der Gelegenheit ein wenig Ordnung schaffen. Womit möchtest du beginnen?«
»Mit deiner Vergangenheit.« Damit riss ich die Vorhänge beiseite und ließ das Licht den Raum fluten.
Den Staub fortwedelnd, ließ Darian sich auf der Kante des Schreibtisches nieder und sah mich fragend an. »Wenn du mir sagst, was dich vorhin in die Flucht geschlagen hat, könnte ich in den entsprechenden Erinnerungen graben. Oder«, er tippte auf das aufgeschlagene, dicke Buch
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