Blut Schatten
aber nicht. »Nein, was aber nicht bedeutet, dass ich deine kriminelle Energie besonders schätze. Was stand in den Briefen und E-Mails? Hast du sie wenigstens gelesen?«
Nach einigem Zögern trat sie an den Schrank und zog einen kleinen Stapel ungeöffneter Briefe unter ihrem Hosenstapel hervor. »Ich wollte lieber nicht wissen, was drinsteht.«
Ich schon. Als Absender wurde die Notre Dame School in Manhattan ausgewiesen, und meine Neugierde wuchs. Daher riss ich sie auf. Zwei dieser Briefe stammten von Kimberlys Mathematiklehrerin, die um ein Gespräch bat, zwei weitere Briefe beorderten meinen Bruder ins Büro der Rektorin, der letzte Brief jedoch enthielt eine Rechnung über drei Monate ausstehende Schulgebühr. Und die war beachtlich. Ein Blick auf das Datum machte klar, dass mittlerweile ein weiterer Monat hinzukam.
Angesichts der offenen Summe wunderte es mich, dass Kimberly weiterhin auf der Schule bleiben durfte. Diese Privatschule in Manhattan war recht kostspielig, und ich glaubte inzwischen zu verstehen, warum die Möblierung dieses Apartments entsprechend spärlich sowie die Krankenversicherung meines Bruders ganz ausfielen. Er steckte jeden Cent in die Ausbildung seiner Tochter und war dadurch chronisch pleite. Eine lobenswerte Absicht, doch nun schien es Schwierigkeiten zu geben. Was war geschehen, dass eine solche Mahnung nötig geworden war? Ich musste dringend mit Darian sprechen.
Die Briefe verschwanden in meiner Hosentasche. »Nun gut, das Kind liegt im Brunnen, sehen wir zu, wie wir es da wieder herausbekommen.«
»Du hilfst mir?«
Ich nickte knapp und erhob mich. »Sicher. Was hast du denn gedacht? Wasch dir das Gesicht und zieh dich ordentlich an. Wir haben etwas zu erledigen.«
»Ziehst du in eine Schlacht?«, fragte Ernestine, als ich ihr auf dem Gang begegnete.
Blitzschnell sah ich mich um, packte sie am Arm und zog sie in die Toilette. Ernestine lachte leise.
»Kein Wort, aber möglicherweise brauche ich deine Hilfe. Kim hat Probleme.«
»Deswegen ist sie vorhin hier durch wie ein Wirbelwind?«, gab sie flüsternd zurück. »Worum geht es?«
Im Telegrammstil lieferte ich Ernestine einen Bericht ab und legte ihr zudem die Briefe vor. Sie sah mich verschwörerisch an. »Okay. Das kriegen wir hin. Hach, ich habe das so lange schon nicht mehr gemacht. Das wird ein Spaß.«
»Du hilfst uns?«
»Selbstverständlich. Glaub mir, Kind, mit Leuten wie diesen Rektoren kenne ich mich aus.«
Ich nickte. »Einverstanden, Ernestine. Zuvor werde ich mit Darian reden müssen.«
»Dann machen wir es so. Allerdings benötigen wir die richtige Kleidung, so als Putzen vom Dienst können wir uns da nicht sehen lassen. Hast du einen Hosenanzug oder etwas Ähnliches? Möglicherweise eine Brille dazu?« Schon schob sie mich aus dem Bad hinaus auf den Gang. »Wann soll diese besondere Begegnung genau stattfinden?«
»Du hast gepetzt!«, kam es da von links. Mit aufrührerischer Miene sah Kimberly zu uns herüber. Selbst auf diese Distanz meinte ich, Tränen in ihren Augen schwimmen zu sehen.
Ernestine reagierte noch vor mir. Sie ließ mich los und eilte auf das Mädchen zu. »Für manche Aufgabe benötigt man Verbündete, junge Dame. Faye sagte, du hättest Ärger in der Schule. Mathematik?«
»Integraler Schwachsinn. Kapiert sowieso kein Mensch.«
»Was ist an Geometrie nicht zu verstehen, Kimberly?« Sie legte dem verblüfft wirkenden Mädchen den Arm um die Schultern und schob es mit sanfter Gewalt zurück in den Raum. »Lass mich mal in deine Bücher sehen. Ich bin sicher, wir finden einen Weg, es dir begreiflich zu machen. So schwer ist das nämlich nicht.«
Ernestine und Mathematik? Was war mir entgangen? Ich wandte mich um und rannte direkt in meinen Vater hinein.
»Hoppla, Tochter. Hast du Erni gesehen? Wenn ihr mit dem Putzen fertig seid, wollten wir zusammen essen gehen.«
Ich wies in den Gang zurück. »Ich glaube, das kannst du knicken. Sie wollte Kimberly bei einer Matheaufgabe helfen. Wusstest du, dass sie das kann?«
Dad nickte. »Sicher, sie hat in Cambridge Mathematik und Physik unterrichtet. War dort sogar Konrektorin, wie ich sie verstanden habe. Warum fragst du?«
»Bitte?«
»Ich sagte, Ernestine hat bis vor zehn Jahren Mathematik und -«
»Akustisch habe ich das durchaus verstanden, Dad.«
»Na, dann ist ja gut.«
Ich war schon fast an ihm vorbei, da blieb ich nochmals stehen. »Ist Darian noch in der Küche?«
»Nein, er wollte nach oben und erneut ein
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