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Blut - Skeleton Crew

Blut - Skeleton Crew

Titel: Blut - Skeleton Crew Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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bleiches Gesicht, das dunkle, bis zu den Augenbrauen in die Stirn gestrichene Haar und seine verängstigten Augen nicht gewesen wären. Er hatte seit gut zwei Jahren nicht mehr im Kindersitz gesessen. Diese Kleinigkeiten entgehen einem so leicht, man bemerkt sie nicht gleich, und wenn einem dann schließlich auffällt, dass sich etwas verändert hat, versetzt es einen immer wieder in Erstaunen. Nachdem die Ewiggestrigen abgezogen waren, hatten die Streitenden einen neuen Blitzableiter gefunden. Diesmal war es Mrs. Carmody, und verständlicherweise stand sie allein da.
    In dem schwachen, trüben Licht sah sie wie eine Hexe aus, mit ihren leuchtenden kanariengelben Hosen, der grellen Kunstseidenbluse, den Unmengen an billigen klirrenden Armreifen aus Kupfer, Schildpatt und Blech und mit ihrer Riesentasche. Ihr pergamentartiges Gesicht war von kräftigen vertikalen Falten durchzogen. Ihre krausen grauen Haare wurden von drei Hornkämmen flach an den Kopf gedrückt und waren hinten zusammengedreht. Ihr Mund war eine dünne knotige Schnur.
    »Gegen Gottes Willen kann sich niemand auflehnen. Das musste so kommen. Ich habe die Vorzeichen gesehen. Ich habe es manchen der hier Anwesenden prophezeit, aber niemand ist so blind wie jene, die nicht sehen wollen.«
    »Nun, was sagen Sie? Was schlagen Sie vor?«, fiel Mike Hatlen ihr ungeduldig ins Wort. Er war ein Stadtrat, obwohl er im Augenblick nicht danach aussah, in seinen ausgeleierten Bermudas und der Schiffermütze. Er nippte an einem Bier; sehr viele Männer taten das inzwischen. Bud Brown hatte es aufgegeben, dagegen zu protestieren, aber er schrieb sich tatsächlich Namen auf – er versuchte, alle ständig im Auge zu behalten.
    »Vorschlagen?«, wiederholte Mrs. Carmody und wandte sich Hatlen zu. »Vorschlagen? Nun, ich schlage vor, dass Sie sich darauf vorbereiten, vor Ihren Gott zu treten, Michael Hatlen.« Sie starrte uns nacheinander an. »Ihr alle solltet euch darauf vorbereiten, vor Gott zu treten.«
    »Vor die Scheiße zu treten«, lallte Myron LaFleur betrunken. »Alte Frau, ich glaube, deine Zunge muss in der Mitte festgewachsen sein, damit sie so oder so reden kann.«
    Beifälliges Gemurmel war zu hören. Billy sah sich nervös um, und ich legte ihm den Arm um die Schultern.
    »Ihr werdet schon noch sehen!«, schrie sie. Ihre Oberlippe schob sich hoch und entblößte schiefe nikotinverfärbte Zähne. Mir fielen die verstaubten ausgestopften Tiere in ihrem Laden ein, die ewig aus dem Spiegel tranken, der ihnen als Bach diente. »Zweifler werden bis zuletzt zweifeln! Und doch hat irgendein Ungeheuer diesen armen Jungen weggeschleppt! Dinge im Nebel! Schauerliche Wesen aus einem Albtraum! Augenlose Missgeburten! Bleiche Schreckensgestalten! Zweifelt ihr daran? Dann geht doch hinaus! Geht doch hinaus und sagt ihnen wie geht’s!«
    »Mrs. Carmody, Sie müssen damit aufhören«, sagte ich. »Sie machen meinem Jungen Angst.«
    Der Mann mit dem kleinen Mädchen pflichtete mir bei. Dieses, ganz stämmige Beine und schorfige Knie, hatte das Gesicht an den Bauch seines Vaters gedrückt und hielt sich die Ohren zu. Big Bill weinte nicht, aber er war den Tränen bedenklich nahe.
    »Es gibt nur eine einzige Chance«, sagte Mrs. Carmody.
    »Und die wäre, Madam?«, fragte Mike Hatlen höflich.
    »Ein Opfer!«, sagte Mrs. Carmody – und es sah im Halbdunkel so aus, als grinste sie. »Ein Blutopfer!«
    Blutopfer  – das Wort hing inhaltsschwer in der Luft. Selbst jetzt, wo ich es besser weiß, rede ich mir ein, dass sie damals irgendeinen Hund meinte – einige liefen im Supermarkt herum, obwohl das verboten war. Sogar jetzt noch versuche ich mir das einzureden. Sie sah im Halbdunkel aus wie eine irre Nachfahrin von Puritanern aus Neuengland … aber ich vermute, dass sie von etwas Tieferem und Dunklerem als reinem Puritanismus motiviert wurde. Der Puritanismus hatte selbst einen düsteren Ahnherrn, den alten Adam mit seinen blutigen Händen.
    Sie öffnete ihren Mund, um weiterzureden, und ein kleiner, zierlicher Mann in roter Hose und ordentlichem Sporthemd schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Sein Haar war wie mit dem Lineal gezogen, links gescheitelt. Er trug eine Brille. Er hatte das unverkennbare Aussehen eines Sommerurlaubers.
    »Hören Sie mit diesem üblen Gerede auf«, sagte er leise und tonlos.
    Mrs. Carmody fuhr sich mit der Hand über den Mund und streckte diese Hand dann aus – eine stumme Anklage. An der Hand waren Blutspuren zu sehen.

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