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Blut und Harz

Blut und Harz

Titel: Blut und Harz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timo Leibig
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zitternd. »Er wohnt nicht weit weg. Ich glaube, ich brauche selbst einen Arzt.«

Kapitel 20
    War es heller geworden?
    Die schwere Dunkelheit um ihn herum glitzerte und funkelte. Die wohlige Schwärze, die ihn bisher liebkost hatte, war diesem penetranten Wogen von diffusen Lichtern gewichen.
    Elias presste seine Augen fester zusammen, um zurückzukehren in das traumlose Nichts, doch das Licht blendete ihn zu sehr. Vorsichtig öffnete er seine Lider zu einem schmalen Spalt.
    Was er erblickte, ließ ihn die Stirn runzeln.
    Über ihm erstreckte sich ein endloses Blätterdach, das sich in schwindelerregender Höhe wie eine Kathedralendecke zu allen Seiten aufspannte. Das Glitzern waren gleißende Sonnenstrahlen, die durch feine Lücken zwischen den Blättern und Nadeln durchbrachen und ihn blendeten. Sie zeichneten bunte Muster auf den Boden, die jedem feingliedrigen Kirchenfenster Konkurrenz gemacht hätten.
    Wo bin ich, fragte er sich benommen.
    Langsam richtete er sich auf und öffnete seine Augen ganz.
    Als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, sah er sich ungläubig um.
    Er saß inmitten eines pompösen Waldes. Schlagartig wusste er, dass dies kein normaler Forst war. Er war oft als Kind durch die Wälder hinter der Stadtgrenze gestreift, hatte in plätschernden Bächen geplanscht und Baumhäuser gebaut, doch das hier war etwas grundlegend Anderes. Ihm kam nur ein Wort in den Sinn: Heroisch. Ja, beinahe prunkvoll. Er spürte es.
    Die Luft roch so intensiv nach Harz und Moos als stünde ein Priester mit einem dampfenden Weihrauchfass neben ihm. Ihm wurde leicht schwindlig. Das Grün und Braun der Stämme und Blätter waren zu farbig in seinen Augen, wie wenn jemand an einem Monitor die Sättigung zu hoch eingestellt hatte.
    Ein Monitor? Der Gedanke an Technik fühlte sich falsch an. Er gehörte nicht hierher.
    Elias kratzte sich nachdenklich am Kopf und fischte sich Tannennadeln aus den Haaren, die hängen geblieben waren. Dann sah er sich nochmals genauer um.
    Leuchtende Fliegenpilze und grasgrüne Farne umringten ihn, standen stumm Wache. Die Baumstämme dahinter waren meterdick wie Steinsäulen und so hoch, dass er es immer noch nicht begreifen konnte.
    Der Gedenke an eine Naturdokumentation über Mammutbäume in den USA kam ihm in den Sinn, doch auch diese fast verblassten Erinnerungen passten nicht. Er befand sich nicht in Kalifornien. Das wusste er einfach.
    Als sein Blick umherschweifte, erkannte er hinter sich den Rand des Waldes. Die Bäume standen enger beieinander und dazwischen sah er leuchtendes Grün und braune Flecken von Maisstauden.
    Mais! Das Etwas! Sein Flug! Der Sturz! Der Tod!
    Plötzlich war wieder alles da.
    Keuchend sprang Elias auf die Beine und suchte hektisch den Waldrand ab, doch dort tobte nichts mehr. Alles schien friedlich zu sein.
    Selbst die Geräuschkulisse strahlte Ruhe aus: Das leise Rascheln von Blättern erfüllte die Luft, unterbrochen von gelegentlichem Knarzen eines Astes und dem klaren Ruf eines Vogels.
    Es ist weg!
    Erleichtert stützte er sich für einen Augenblick auf die Oberschenkel und schloss die Augen.
    Natürlich ist es weg. Es hat hier keine Macht.
    Elias fuhr hoch und drehte sich einmal um die eigene Achse. Die Stimme war wieder in seinem Kopf, doch es war niemand zu sehen.
    »Wer bist du?« rief er. »Zeig dich!«
    Öffne die Augen.
    »Sie sind offen!«
    Ein Windstoß pfiff durch die Bäume und wirbelte Laub auf. Es wurde meterhoch in die Luft katapultiert, tiefer hinein in den Wald, bis es langsam wieder auf den Boden trudelte. Einzelne Blätter drehten sich tanzend im Kreis, Pirouette um Pirouette.
    »Was soll das?« fragte er laut. »War das eine Aufforderung?«
    Dieses Mal erhielt er keine Antwort. Unschlüssig sah sich Elias nochmals um. Er hatte nicht wirklich viele Möglichkeiten. Entweder den Wald verlassen, zurückkehren in das endlose Maisfeld oder tiefer hinein ins Gehölz.
    Der Gedanke an das Etwas, das ihn draußen erwarten könnte, ließ ihn erschauen.
    Er hatte nur eine Wahlmöglichkeit.
    Abrupt machte er auf dem Absatz kehrt und folgte der Richtung, die der Windstoß ihm scheinbar gewiesen hatte. Was blieb ihm auch anderes übrig? Er hatte nichts zu verlieren.
    Schweigend wanderte er los.
    Mit jedem Schritt, den er tiefer hineindrang, veränderte sich die Natur. Erst unmerklich, dann immer deutlicher.
    Die Stämme wurden noch dicker und standen enger. Die glitzernden Sonnenstrahlen verblassten, abgedunkelt vom immer dichteren Blätterdach.

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