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Blut und Harz

Blut und Harz

Titel: Blut und Harz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timo Leibig
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weiteten sich. »Woher? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemals mit einem Killer zu tun hatte. Sie geht so selten aus dem Haus und wenn dann nur zum Einkaufen. Woher kennt ihr sie also?«
    Der Rabe blickte nun unter seinen Augenbrauen hervor. Er sah aus wie ein Falke auf der Lauer nach einer armen Maus. Die leere Tasse wanderte geräuschvoll auf den Tisch.
    »Darja Orlow, geboren am 30. Dezember 1960 in Gomel, verheiratet mit Konstantin Orlow -« er atmete leise aus, ehe er hinzufügte: »- ist meine Mutter.«
    Der Schlag saß tief, wie Erik feststellte. Natalja klappte der Kiefer nach unten. Sie konnte eindeutig nicht glauben, was sie eben gehört hatte. Doch es war Alexander todernst, wie Erik merkte. Er spürte, wie sein Herz ebenfalls zu rasen begann.
    »Das kann nicht sein!« stieß Natalja aus. »Ich habe keinen Bruder! Das ist eine Lüge!«
    Alexander schüttelte entschieden den Kopf. »Du hast. Er sitzt vor dir, Schwesterherz.«
    Eine drückende Stille senkte sich über den Raum, als sich die beiden Geschwister in die Augen starrten. Erik saß daneben, beobachtete abwechselnd das Profil der beiden und plötzlich sah er die Verwandtschaft ganz deutlich: Den Schwung der Augenbrauen, den Haaransatz an der Stirn, die Form der Nase und die leicht vogelhaft geformte Lippenpartie. Für ihn bestand kein Zweifel mehr. Alexander und Natalja mussten miteinander verwandt sein.
    »Wie ist das möglich? Mama hat nie etwas von dir erzählt. Nur von meinem … unserem Vater. Ich wusste nicht, dass ich einen Bruder habe.« Sie klang auf einmal seltsam traurig, überrollt von den Ereignissen.
    »Wie geht es Konstantin? Ich habe ihn seit -« der Rabe senkte den Blick, suchte erneut in seiner leeren Tasse nach Worten »- langer Zeit nicht mehr gesehen.«
    Natalja schluckte schwer. »Er ist tot, gestorben an den Folgen von Tschernobyl. Schilddrüsenkrebs. Zumindest hat man uns das so mitgeteilt.«
    Die Kaumuskeln in Alexanders Gesicht hüpften auf und ab, als er die Nachricht vernahm. Erik war seltsam gerührt. Die Szene, die vor ihm ablief, barg so viele Emotionen in sich, dass es ihn selbst tief in seinem Inneren berührte. Zum ersten Mal sah er wirkliche Gefühle im Antlitz des Raben miteinander ringen, doch dieser hatte sich trotz alledem im Griff.
    »Wie geht es Mutter? Ich hoffe, dass wenigstens sie noch wohl auf ist. Der Rest der Familie lebt ja leider nicht mehr.«
    Natalja nickte, doch gleichzeitig sah sie ihn fragend an. »Ja, Darja ist kerngesund und wohnt in der Nähe von mir und Elias«, sagte sie. »Sie hat eine kleine Wohnung in Stuttgart. Aber was meinst du damit, dass sonst keiner mehr lebt? Und wo hast DU die ganze Zeit gesteckt? Wieso bist du ein Killer? Wer bist du überhaupt?«
    Seufzend schenkte sich Alexander einen zweiten Kaffee ein. Mit der dampfenden Tasse in der Hand lehnte er sich in die Polster zurück, blickte abwechselnd Natalja und Erik an.
    »Das ist eine lange Geschichte, aber was anderes als Warten bleibt uns ja sowieso momentan nicht übrig. Wollt ihr vorher noch etwas essen? Es kann ein langer Abend werden. Ich habe Ravioli aus der Dose hier. Kann ich warm machen.«
    Natalja und Erik wechselten einen Blick und nickten gleichzeitig. Beim Gedanken an etwas Warmes regte sich Eriks Magen. Klagend und fordernd rumorte er laut. Alexander lächelte, doch Erik war klar, dass der Mann hauptsächlich Zeit zum Nachdenken wollte.
    Zehn Minuten später saßen alle drei wieder am Tisch, voll gehäufte Teller mit Fertigravioli mit Tomatensauce und fleischhaltiger Füllung vor sich. Zwei Dosen hatte Alexander erwärmt. Der Geruch, der von seinem Teller emporstieg, erinnerte Erik an seine Studentenzeit. Zu oft hatte er genau diese Ravioli von Maggi verputzt, eine einfache und schnelle Mahlzeit während der Vorlesungen. Er hatte es am Ende seiner Diplomarbeit gehasst. Jetzt ließen sie ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.
    Alexanders Teller jedoch war noch leer. Seine Portion ruhte im Topf, der bei kleinster Flamme auf dem Herd vor sich hin schwitzte. Alexander wollte offensichtlich erst reden, während seine Gäste das Abendessen verdrückten.
    »Wo soll ich am besten anfangen?« begann er mit belegter Stimme. »Ich wurde im August `78 in Gomel geboren. Damals war ich ein komplizierter Junge.« Alexander suchte einen Moment nach den richtigen Worten. Erik schob sich derweilen die erste Ravioli in den Mund. »Schwer erziehbar hatte man meinen Eltern gesagt. Heute hätte man festgestellt, dass ich

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