Blut und Harz
hättest Fragen gestellt und ich hätte nicht lügen können, nicht innerhalb der Familie! Und ein Berufskiller als großer Bruder wäre eine nicht sehr vorteilhafte Konstellation gewesen. Ich entschied mich dagegen.«
Stille legte sich erneut über den kleinen Wohnwagen, nur unterbrochen vom Zischeln der winzigen Herdflamme. Erik schluckte die letzte Ravioli hinunter, lehnte sich satt zurück. Für den Augenblick ruhte er in sich selbst, doch sein Magen machte sich mit einem leichten, unangenehmen Ziehen in der Leistengegend bemerkbar. Das heiße Essen regte seine Verdauung an.
»Aber warum Alexander? Ich hätte doch schweigen können!«
Entrüstet oder satt schob Natalja den fast leeren Teller von sich. »Hast du das einem Mädchen nicht zugetraut? Ein Geheimnis zu bewahren?«
Alexander schüttelte traurig den Kopf. »Doch, das schon, aber es hätte dich belastet, in irgendeiner Art und Weise. Das wollte ich nicht. Ich habe mir geschworen, mich bei dir zu melden, sobald ich meinen Beruf an den Nagel hänge und -«
»Du bist mehrfacher Millionär!« raunte Natalja mit zitternder Stimme. »Du müsstest überhaupt nicht mehr arbeiten und schon gar nicht Menschen töten! Wir könnten uns schon seit zehn Jahren kennen!«
Der Vorwurf und die Enttäuschung in ihren Worten waren beinahe greifbar. Eriks Magen drückte erneut, schmerzte gluckernd.
Er musste auf die Toilette.
»Es tut mir leid, aber du kannst es nicht verstehen. Niemand kann es verstehen, außer jemand hat eine tiefgreifende Passion. Jeder erfolgreiche Musiker müsste nicht mehr arbeiten und doch tun sie es: Elton John. Joe Cocker. Die Mitglieder von ACDC. Madonna. Sie musizieren, weil es ihr Leben ist. Es ist ihre Aufgabe, etwas was sie außerordentlich gut können.“
»Und bei dir ist es das Töten? Willst du das damit sagen? Das Auslöschen von Menschenleben ist deine Leidenschaft?«
Die Worte kamen schrill, hysterisch. Ihr Gesichtsausdruck war verzerrt zu einer ungläubigen Maske, die Augenbrauen zweifelnd zusammengepresst.
»Entschuldigt bitte«, unterbrach Erik die Unterhaltung. Sein Mageninhalt drehte sich geräuschvoll, was einen plötzlichen Hitzeschauer durch seinen Körper jagte. »Ich muss dringend auf eine Toilette. Wo ist hier die nächste?« Gleichzeitig konnte er die Unterhaltung unterbrechen, vielleicht etwas Wind aus den Segeln nehmen.
Alexanders Blick wanderte von seiner Schwester zu Erik. Er sah verwirrt aus, als hätte er erst jetzt Eriks Anwesenheit bemerkt. „Ähh … zwei Minuten zu Fuß in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Dort ist ein Waschhaus auf der rechten Seite. Du kannst es nicht verfehlen.«
Erik nickte, schob sich ächzend an Natalja vorbei, schnappte sich sein Mobiltelefon, das immer noch auf dem Tisch lag, und trat hinaus in die Dunkelheit. Der Campingplatz war düster und verlassen. Eigentlich hätte die Sonne erst vor kurzem untergehen sollen, doch bei den heutigen Wetterverhältnissen schien sie es sich schon viel früher überlegt zu haben. Wahrscheinlich war sie heute einfach zu faul gewesen aufzustehen. Nur die Laternen am Hauptweg leuchteten hell, vereinzelt glühte zusätzlich ein rechteckiges Wohnwagenfenster in gelbem Schein.
Der Nebel schien sich durch Eriks Haut tief in sein Fleisch zu bohren und versuchte, ihm mit seinen eisigen Zungen das Mark aus den Knochen zu lecken. Warum hatte er auch seine Jacke im Wohnwagen liegen gelassen? Er schlang die Arme fester um seinen Körper, als er vor sich hin trottete.
Im Kern konnte er Alexander verstehen. Auch er hätte schon vor ein paar Jahren in Rente gehen, irgendwelchen erhofften Hobbies frönen können. Bergwandern vielleicht. Reisen. Holzfiguren schnitzen. Finanziell wäre es kein Problem gewesen, doch Erik hatte ein neues Hotelprojekt angefangen und dann wieder ein neues. Für ihn war die Arbeit sein Antrieb, seine Essenz des Lebens. Auch er hatte keine Frau, genauso wie der Rabe, und sein einziger Sohn wohnte zum Studium in Stuttgart. Familie gab es also nicht, was blieb? Arbeit.
Er konnte schon verstehen, warum es Alexander antrieb, weiterzumachen. Die Tätigkeit selbst war ein anderes Thema. Nur Natalja war wohl noch zu jung, um diese Haltung verstehen zu können. Sie stand erst am Anfang ihrer Berufslaufbahn.
Das eingeschossige Waschhaus tauchte neben dem Weg auf, halb verborgen hinter hohen Hecken. Die Fenster waren hell erleuchtet. Erik betrat den separaten Herrenbereich. Die Eingangstüre mit einem aufgenagelten Männersymbol
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