Blut und Kupfer
»Ihr solltet gehen, bevor die Schwestern hier sind und neugierige Fragen stellen.«
»Danke.« Der Anblick von Gislas in stummem Schrei aufgerissenem Mund hatte sich in Maries Gedächtnis gebrannt, und sie wagte nicht zu denken, welche Überlegungen dem Mörder durch den Kopf gegangen waren, als er sie und Gisla zusammen gesehen hatte. Wen hatte Gisla erkannt? Hinter welcher der freundlich lächelnden höfischen Larven versteckte sich die grausame Seele eines Mörders? War es der verwundete Tulechow? Unwahrscheinlich. Oder Graf von Larding? Sie wusste nichts über diesen Mann. Vielleicht einer der Räte? Unsinn. Wie sollten sich solche Herren aus dem Gefolge des Herzogs unbemerkt entfernen? Es blieb nur einer der Diener oder ein Sekretär. Ein Diener, der mehr zu sein schien. Jais.
XXVII
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Begegnung im Höllerbräu
Der Ammochrysos sieht aus wie ein Gemenge von Sand und Gold.
Caius Plinius Secundus, »Naturgeschichte«,
XXXVII. Buch, »Von den Edelsteinen«
G islas gewaltsamer Tod erschreckte Marie mehr als die vorangegangenen Taten, denn der Mörder war so nahe gewesen, dass es genauso gut sie selbst hätte treffen können. Aber er hatte sie verschont, wie er auch bislang ihrem Oheim kein Leid zugefügt hatte. Und die ominöse Rolle der unverschämten Berthe bedurfte der Klärung. Die von Hauchegger eingeschleuste Nonne hatte zwar in den Büchern und Aufzeichnungen ihres Oheims gestöbert, doch genauso hatte sie überall in der Gegend die Leute über schwarze Magie und Hexen befragt und musste nicht zwangsläufig mit dem Mörder derer, die im Besitz der Scagliola-Tafeln oder des Wissens über deren Herkunft waren, in Verbindung stehen. Außerdem wäre es ein Leichtes für Berthe gewesen, dem schwachen Remigius eine tödliche Dosis Gift zu verabreichen. Nein, nein, dachte Marie und ging in das Armenspital, das einen Ausgang zur Schwabinger Gasse hatte.
Anders als im Herzogspital gab sich hier nur selten ein Medicus die Ehre. Die studierten Doktoren behandelten bevorzugt die Malaisen der Hofdamen im ersten Stock und kassierten großzügige Honorare. Doch die Nonnen kümmerten sich nach Kräften um die Mittellosen und Bedürftigen der Stadt, denen die widrigen Lebensumstände meist mehr zu schaffen machten als die Krankheiten selbst. Vor einem schmalen Tisch in einer Ecke des Krankensaals standen die Patienten geduldig wartend an. Marie versuchte die penetranten Ausdünstungen zu ignorieren, während sie nach der Aufsicht führenden Nonne Ausschau hielt. Eine der erfahreneren Schwestern stand am Bett eines Kindes und strich dem Mädchen über die Stirn. »Und wenn der Himmel seine Tore öffnet, werden dich die Engel mit ihren Schwingen umfangen, und du wirst keine Schmerzen mehr verspüren.«
Das Mädchen schaute die Schwester vertrauensvoll mit riesigen blauen Augen an, die in tiefen, dunklen Höhlen lagen. Ihr magerer Brustkorb hob und senkte sich unter großer Anstrengung, doch über die rissigen Lippen glitt ein Lächeln. Langsam schloss es die Augen, und seine Atmung beruhigte sich etwas. Die Schwester seufzte, zog die Überdecke gerade und entdeckte Marie. »Armes Ding, es hat eine schwärende Wunde am Fuß, die nicht behandelt wurde. Jetzt ist es zu spät, und das schwarze Blut steigt zum Herzen.«
»Aber Ihr habt sie getröstet in ihrem Leid, Schwester«, sagte Marie.
»Es ist nur so wenig …« Die Schwester versteckte ihre Hände in ihrer Tunika, wie um sich zu sammeln. »Und was bringt Euch her?«
»Oh, ich wollte mich nur abmelden. Am anderen Ausgang drängt sich die Hofgesellschaft. Ich besuche meinen Bruder, der schwer verwundet im Herzogspital liegt. Könntet Ihr das freundlichst vermerken und der Mutter Oberin mitteilen?« Marie hoffte, dass es so klang, als wäre der Besuch bereits genehmigt, andererseits wusste die Schwester vielleicht nichts von Zeiners Auflage, sich nur mit Erlaubnis aus dem Kloster zu entfernen.
An einem Krankenlager in der nächsten Reihe erhob sich Lärm, und eine Nonne rief: »Schwester Clara!«
Die Gerufene nickte Marie zu. »Geht nur. Ihr seht ja, wie es hier zugeht!« Und sie ging zum nächsten Krankenlager.
Bevor jemand ihr Fortgehen verhindern konnte, eilte Marie durch den Saal, ein Vorzimmer und stand endlich allein auf dem Pflaster der Schwabinger Gasse. Wolken waren aufgezogen, und die Luft war auf drückende Weise warm. Es wird Gewitter geben, dachte Marie und winkte nach einem Tragsessel. Für eine Tour zum Herzogspital würde ihr Geld reichen.
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