Blut und Kupfer
Oberin stand in der Haltung einer strafenden Richterin neben ihrem Schreibpult und begrüßte Marie mit eisiger Miene.
»Gott zum Gruße, Mutter Oberin.«
»Ihr habt das Kloster ohne meine Erlaubnis verlassen!«
»Ich habe mich im Spital abgemeldet. Es steht schlecht um meinen Bruder!«
»Das sind Ausreden, Frau von Langenau. In Eurer Gegenwart ist unsere selige Schwester Gisla zu Tode gekommen, und Ihr haltet es nicht einmal für notwendig, mich davon in Kenntnis zu setzen?« Im strengen Gesicht der Oberin zuckte es vor Wut.
»Schwester Iris …«
»Schwester Iris ist nicht die Oberin!«, zischte die hochgewachsene Frau. »Ihr seid meinem Schutz anbefohlen, und Ihr seid mir Rechenschaft über jeden Eurer Schritte hier in diesen Mauern schuldig. Ich habe den Ruf dieses Klosters zu verantworten, und er war untadelig! Bis heute!«
»Ich habe mir nichts vorzuwerfen«, erwiderte Marie und hob leicht ihre schmutzigen Röcke an. »Man hat mich überfallen, mir ist kalt, und ich habe Schmerzen. Was wollt Ihr also von mir?«
Die Oberin schlug mit der flachen Hand auf das Pult. »Schon bei unserer ersten Begegnung befürchtete ich, dass Ihr Ärger machen würdet! Überfallen? Vor dem Herzoghospital?«, fragte die Oberin argwöhnisch.
»Nicht weit davon. Jemand kam vorbei, und die Diebe haben sich aus dem Staub gemacht«, umschrieb Marie die Wahrheit, ohne zu lügen.
»Bemerkenswert. Nun sagt mir noch, wie genau es zu Gislas plötzlichem Ableben gekommen ist. Schwester Iris’ Erklärung war recht vage.« Die Oberin drehte den Docht der Lampe höher, so dass sie Marie im Licht besser beobachten konnte.
»Wir saßen auf der Bank neben den Rosen, als der Herzog und sein Gefolge den Kreuzgang betraten, und Gisla machte eine Bemerkung über das Kleid der Herzogin. Mit einem Mal griff sie sich an die Brust und atmete schwer. Ich ging fort, um Schwester Iris zu holen, und als wir zurückkamen, war Gisla tot.« Über die Strangulation schwieg sie, da sie nicht wusste, was Iris dazu gesagt hatte.
»Novizin Katharina will beobachtet haben, wie Ihr Iris darauf hingewiesen habt, dass Gisla erdrosselt wurde. Ist das richtig?«
Entrüstet legte Marie sich die rechte Hand aufs Herz. »Ich habe ein Auge für Details, Oberin, und mir ist aufgefallen, dass Gislas Schleier am Hals verrutscht war. Daraufhin hat Iris nachgesehen. Diese Novizin hat eine lebhafte Phantasie für jemanden, der sich für das Kloster entschieden hat.«
»So wie Ihr es darstellt, könnte es gewesen sein«, räumte die Oberin ein. »Ihr solltet die nassen Sachen ablegen. Oh, nur noch eines, bevor Ihr geht – solange Ihr Quartier im Kloster habt, verlasst es nicht ohne meine Erlaubnis, sonst sehe ich mich gezwungen, Geheimrat Zeiner zu informieren. Allerdings möchte ich jede Einmischung von außen vermeiden.« Die stolze Ordensfrau spielte mit ihrem Rosenkranz. »Es wäre ja auch möglich, dass sich der Schleier zu fest um Gislas Hals gezogen hat, als sie nach Luft rang.«
Ohne zu zögern, ging Marie auf das Angebot ein. »Das wäre durchaus vorstellbar, und ich entsinne mich, dass sich Gislas Schleier in den Rosen hinter der Bank verfangen hatte.«
Die Oberin hob die Brauen. »Da haben wir es! Kein Grund, Seine Durchlaucht mit unseren Sorgen zu belästigen. Ich wünsche Euch eine gute Nacht, Frau von Langenau. Gottes Segen.«
»Danke, Mutter Oberin.«
Nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, bekreuzigte sich Marie und schickte ein Stoßgebet zu allen Schutzheiligen, die sie namentlich kannte.
Noch vor den Laudes, dem Morgengebet, begann Marie einen Brief an ihren Oheim zu schreiben. Während sie die Feder in die klumpige Tinte tauchte, wurde das Gut mit seinen Bewohnern in ihrer Vorstellung lebendig. Anton, Paul und seine Vroni, die inzwischen fortgezogen waren, der boshafte Einhard, mit dem sie noch eine Rechnung offen hatte, und Aras. Seufzend hielt sie inne, wischte sich die Augen und setzte erneut an. Eugenia musste längst von ihrer Wallfahrt zurück sein! Entmutigt ließ sie die Feder sinken, zerriss den Briefbogen und schob die Papierfetzen samt Feder und Tinte in die Tischschublade. Die Gefahr, dass Eugenia den Brief abfing, war zu groß.
Das Unwetter hatte sich verzogen, und die Vögel riefen sich den ersten Morgengruß im Angesicht der zaghaft heraufziehenden Morgenröte zu. Marie hatte das kleine Fenster ihrer Zelle weit aufgestoßen und sog die frische Luft ein, in der sich die vom durchnässten Boden aufsteigende Feuchtigkeit
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