Blut und rote Seide
diesem berüchtigten Badehaus treffen wollte. Und das im Anschluß an seine rätselhafte Abwesenheit.
Die Tür gab den Blick auf eine befremdliche Szene frei: Chen in Gesellschaft einer hinreißenden Frau, beide nur mit Bademänteln bekleidet. Sie wirkten wie ein Ehepaar in einer luxuriösen Wellness-Oase.
»Ach, das ist mein Partner, Hauptwachtmeister Yu«, stellte Chen ihn vor. »Xia, das bekannteste Model der Stadt und ebenfalls Partner, allerdings in diesem großartigen Badehaus hier.«
»Willkommen, Hauptwachtmeister Yu, ich habe von Ihnen gehört«, begrüßte sie ihn lächelnd. »Ich muß jetzt ohnehin zurück an die Arbeit. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie etwas brauchen, Oberinspektor Chen.«
»Ganz herzlichen Dank, Xia.« Und beiläufig fügte er hinzu: »Übrigens, haben Sie den Schlüssel noch?«
»Den Schlüssel? Schon möglich. Ich werde mal nachsehen.«
Anmutig verließ sie auf leisen Sohlen den Raum und schloß behutsam die Tür hinter sich.
»Sie scheinen Ihre Ferien ja zu genießen, Chef.«
»Ich erkläre Ihnen alles – beizeiten«, entgegnete Chen, »aber zuerst muß ich jemanden anrufen.«
Offenbar war es ein guter Bekannter, denn Chen hinterließ nur eine kurze Nachricht: »Komm ins Badehaus, ins Goldene Zeiten.«
Dann wandte er sich Yu zu. »Lassen Sie hören, was Sie über Tian herausgefunden haben.«
»Ich bin gleich heute morgen in die Fabrik gefahren«, sagte Yu von der Kante des Sofas aus, auf dem sich kurz zuvor Xia geräkelt hatte. Der lange, noch leicht feuchte, warme Abdruck ihres Körpers war deutlich zu erkennen. »Die meisten seiner früheren Kollegen sind im Ruhestand oder verstorben, aber ich habe das eine oder andere aufgeschnappt; manches werden Sie bereits aus den Vernehmungsprotokollen wissen.«
»Möglich, aber ich hatte noch nicht die Zeit, mir ein Bild zu machen. Erzählen Sie bitte.«
Es war heiß im Zimmer. Yu zog seine wattierte Jacke aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Chen goß ihm eine Schale Oolong ein.
»Danke, Chef«, sagte Yu. »Tian hat Anfang der fünfziger Jahre als einfacher Arbeiter dort angefangen. Beim Ausbruch der Kulturrevolution formierten sich überall Trupps von Rotgardisten und Arbeiterrebellen. Tian gehörte zu einer Gruppe von Arbeiterrebellen, die sich Rote Fahne nannte und aus Arbeitern unterschiedlicher Fabriken bestand. Gemäß Maos Aufruf, den ›Kapweglern‹ die Macht zu entreißen, gewann Tian über Nacht an Einfluß. Im Namen der Diktatur des Proletariats konnte er den sogenannten Klassenfeind nach Herzenslust verprügeln und tyrannisieren. Kurz darauf schloß er sich dem Mao-Zedong-Gedanken-Propagandatrupp an, der im Shanghaier Konservatorium zum Einsatz kam. Dort hat er sich, wie es heißt, noch wüster aufgeführt und vor allem an Intellektuellen ausgetobt.«
»Gab es irgendwelche Ungereimtheiten beim Einsatz dieses Trupps?« unterbrach ihn Chen.
»Normalerweise setzten sich die Propagandatrupps aus Arbeitern einer Fabrik zusammen, die dann an eine bestimmte Lehranstalt geschickt wurden, Tian schloß sich auf eigenen Wunsch den Arbeitern eines anderen Stahlwerks an. Über deren ›revolutionäre Aktivitäten‹ konnte ich allerdings nicht viel in Erfahrung bringen. Dieses Werk ist nämlich vor zwei, drei Jahren pleite gegangen. Niemand in Tians ursprünglicher Fabrik konnte mir etwas darüber sagen, außer daß er brutal vorgegangen sein muß. Ende der Siebziger, als die Kulturrevolution vorüber war und offiziell zum gutgemeinten Fehler Maos erklärt wurde, galt der Einsatz an den Lehranstalten als beendet; Tian ist reumütig in seine alte Fabrik zurückgekehrt.
Dann kam die Kampagne gegen die ›Drei Übeltäter‹ der Kulturrevolution, eine Kategorie, unter die auch Tian fiel, wobei viele andere ehemalige ›Rebellen‹ ungeschoren davonkamen. Über ihn gingen jedoch Briefe bei der Stadtregierung ein, und zwar bei einem Kader, dessen Vater, ein alter Professor am Konservatorium, während jener Jahre brutal verprügelt worden war. In einem Schreiben hieß es, Tian habe dem alten Mann die Rippen eingetreten. Bei der nachfolgenden Untersuchung kam heraus, daß ein weiterer Lehrer durch Tians Schläge Lähmungen davongetragen hatte; angeblich hatte er auch Goldmünzen beschlagnahmt und eine Frau kraft seiner Position zum Beischlaf gezwungen. Man konnte ihm zwar nichts nachweisen, doch am Ende verlor er seine Stelle und wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Seine Frau ließ sich scheiden und zog mit der
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