Blut und rote Seide
Tochter aus …«
Es klopfte leise an der Tür. Als Chen öffnete, kam ein Schwarm Mädchen in Pyjamas und Schläppchen herein.
»Wünschen Sie unseren Massageservice?« fragte eines der Mädchen schmeichlerisch. »Geht aufs Haus; Geschäftsführerin Xia hat das veranlaßt.«
Eine andere hatte eine Thermoskanne mit heißem Wasser dabei und goß ihnen frischen Tee auf.
»Nein, danke. Bitte sagen Sie Xia, daß wir wunschlos glücklich sind. Falls wir etwas benötigen, melden wir uns.« Nachdem die Mädchen draußen waren, nahm Chen den Faden wieder auf. »Soviel zu seinen Aktivitäten als Propagandatrupp-Mitglied. Und was hatte es mit seiner Pechsträhne auf sich?«
»Ihm und seiner Familie sind sonderbare Dinge zugestoßen. Seine Exfrau traf sich mit anderen Männern, was bei einer Geschiedenen Mitte Dreißig ja nicht verwunderlich ist. Doch bald kursierten Fotos, die sie beim Verkehr mit ihrem neuen Freund zeigten. Einige wurden ihrer Fabrik zugespielt und an die ›Säule der Erniedrigung‹ gepinnt. Anfang der Achtziger war Sex ohne Trauschein noch strafbar. Aus Scham beging sie Selbstmord. Die örtliche Polizei ermittelte, da man ihren Liebhaber verdächtigte, aber sie Sache wurde nie geklärt. Die Tochter ist daraufhin zu Tian zurückgekehrt.«
»Das ist ungewöhnlich«, bemerkte Chen. »Er war doch nur ein einfacher Arbeiter, geschieden und nicht mehr jung, Vater einer Tochter. Und sie traf sich mit einem Mann, der kaum besser gestellt gewesen sein dürfte. Wer also hatte Interesse an diesen Fotos? Sieht nach einem engagierten Profi aus. Aber ein einfacher Arbeiter hätte sich das nicht leisten können.«
»Auch in Tians Restaurant kam es zu sonderbaren Vorfallen …«
»Ja, die Sache mit dem Restaurant habe ich überprüft«, unterbrach Chen. »Haben Sie mit seinen ehemaligen Kollegen über sein Pech gesprochen?«
»Ja, genau wie die Nachbarn sahen auch seine Kollegen darin eine Rache des Schicksals«, antwortete Yu. »Wie immer man es sehen mag, er war tatsächlich vom Unglück verfolgt. Fast wie im Märchen.«
»Vergeltung ist ein verbreitetes Märchenmotiv. Ein Mann, der ein Unrecht begeht – sei es in diesem oder in einem vorigen Leben –, wird von höheren Mächten seiner gerechten Strafe zugeführt. Aber sollen wir so etwas glauben?«
»Sie meinen, daß etwas anderes hinter diesen Unglücksfällen steckt?« fragte Yu und hob unvermittelt den Kopf. »Tian ist mehr tot als lebendig, wie kann er da etwas mit unserem Fall zu tun haben?«
»Gestern morgen war ich im Jing’an-Tempel und habe mir Ihr Interview mit Weng, Jasmines Freund, noch einmal durchgelesen, da kam mir die Idee, daß es womöglich gar kein Pech war, sondern eine gezielte Anschlagserie. Meine Vermutung könnte durch das, was Sie in seiner Fabrik erfahren haben, bestätigt werden.«
»Schön und gut, aber was hat das mit unserem Fall zu tun?« insistierte Yu, den Chens Abschweifungen allmählich nervten. In dieser Hinsicht war Chen fast so schlimm wie der Alte Jäger.
»Sie erwähnten gerade, daß Tian in seiner Eigenschaft als Mitglied des Propagandatrupps eine Frau zum Sex gezwungen hat«, erklärte Chen geduldig.
»Ja, das hat jemand behauptet, es ist allerdings nicht erwiesen.«
»Wissen Sie, wie die Frau hieß?«
»Ein Name wurde nicht genannt, aber vermutlich unterrichtete sie am Konservatorium.«
»Sie folgen da einer heißen Spur, Yu. Ich werde Ihnen etwas zeigen.« Chen zog ein Foto hervor. »Sehen Sie sich diese Frau an.«
»Diese Frau …«, stammelte Yu. »Sie trägt einen qipao .«
»Beachten Sie die Machart.«
»Tatsächlich!« Yu sah sich die Aufnahme genauer an. »Derselbe Stil. Sie meinen …?«
»Die Frau auf dem Bild ist Mei, eine Geigerin, die am Konservatorium lehrte. Tian hat sie mißbraucht, oder besser gesagt, er hat sie zum Verkehr gezwungen. Als Gegenleistung für die Freilassung ihres Sohnes. Sie ist an jenem Nachmittag gestorben. Tian wurde gesehen, wie er aus ihrem Zimmer schlich.«
»Hat er sie umgebracht?«
»Nein, technisch gesehen starb sie durch einen Unfall, aber er war schuld daran.«
»Davon hat niemand im Stahlwerk etwas erzählt.«
»Entweder wußten sie nichts davon, oder sie hielten es nicht für relevant. Die Sache liegt über zwanzig Jahre zurück; Tian ist gelähmt und nicht mehr ansprechbar.«
»Hat denn niemand, ich meine von ihrer Familie, Anzeige erstattet? Der Sohn des Professors mit den gebrochenen Rippen hat sich doch auch gewehrt.«
»Sehen Sie sich den Jungen
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