Blut und rote Seide
dadurch noch verstärkt.
Schon vor dem Gerichtsverfahren war er am Rand eines Nervenzusammenbruchs gestanden. Trotz des nach außen hin ruhigen Auftretens war seine Persönlichkeit gespalten – Advokat eines neuen Rechtssystems und gleichzeitig selbst der schlimmste Gesetzesbrecher. Vom Scherbenhaufen seines Privatlebens ganz zu schweigen.
Und dann wurde Jasmine umgebracht.«
»Sie wollen also sagen, Oberinspektor Chen, daß er aus Streß zum brutalen Killer wurde?«
»Seine Krise schwelte schon lange. Doch abgesehen von den genannten Punkten muß es noch einen anderen Auslöser gegeben haben.«
»Und was sollte das gewesen sein?« bemerkte Jia mit gespieltem Gleichmut. »Darunter kann ich mir nichts vorstellen.«
»Die Panik, daß sein Racheplan im letzten Moment scheitern könnte. Er hatte Jasmine ein miserables Leben bereitet und angenommen, daß sie über kurz oder lang daran zerbrechen würde. Doch dann begegnete sie einem Mann, der bereit war, sie zu heiraten und in die Staaten zu bringen – außerhalb von J.s Reichweite. J. hatte ihr einen elenden Job in einem Hotel zugedacht, wo sie – Ironie des Schicksals – den Mann ihres Lebens traf. Die Aussicht, sie könnte ein glückliches Leben in den Staaten führen, war zuviel für ihn. Eines Abends hat er sie dann ausgeführt.
Schwer zu sagen, was genau er ihr angetan hat; vergewaltigt hat er sie jedenfalls nicht. Aber er hat sie stranguliert, ihr ein Kleid angezogen, das dem seiner Mutter auf dem Bild ähnelte, und die Leiche vor dem Konservatorium abgelegt, einem Ort von symbolischer Bedeutung. Das Ganze glich einer Opferung und war zugleich eine Aussage, eine Botschaft an die Mutter, die nach all den Jahren endlich gerächt werden sollte, wenngleich er selbst kaum in der Lage war, diese Botschaft zu deuten.
Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Während das Mädchen ihr Leben aushauchte, empfand er etwas völlig Neuartiges und Unerwartetes, das einer Befreiung gleichkam. Plötzlich war die Verbindung zu seinem früheren Selbst wiederhergestellt, wenn auch nur für Momente. Und als der Geist erst einmal aus der Flasche entschlüpft war, konnte er ihn nicht wieder bändigen. Angesichts der jahrelangen Repression und Unterdrückung ist es bis zu einem gewissen Grad verständlich, warum der Mord eine so enorme Entlastung bedeutete, eine nie gekannte Befriedigung, eine Art mentaler Orgasmus, denn ich bezweifle, daß es irgendwelche sexuellen Übergriffe gegeben hat. Diese befreiende Empfindung wirkte wie eine Droge, und er wurde süchtig.«
»Das klingt nun eher wie eine Ihrer Krimi-Übersetzungen, Oberinspektor Chen«, kommentierte Jia. »In diesen Büchern kommen ständig Wahnsinnige vor, für die der Nervenkitzel des Mordens zur Droge wird. Es wäre zu simpel, Ihrem Protagonisten den Stempel des Psychopathen aufzudrücken. Sie glauben doch nicht etwa an diesen Quatsch?«
Die Standuhr aus Mahagoni begann wie im Nachklang auf Jias Frage zu schlagen. Chen blickte auf. Elf Uhr. Sein Gegenüber machte keine Anstalten aufzubrechen; vielmehr hatte er sich ernsthaft auf die Sache eingelassen. Kein schlechter Start für Chen.
»Lassen Sie mich zunächst mit meiner Geschichte fortfahren, Herr Jia«, erwiderte Chen. »Auf diese Weise kam es zu der Mordserie. Er wurde nicht länger von Rache getrieben, sondern von dem unstillbaren Verlangen zu töten. Er wußte, daß die Polizei in höchster Alarmbereitschaft war, also konzentrierte er sich auf Dreispartengirls, die leicht anzusprechen sind und es mit der Moral nicht so genau nehmen. In seiner Besessenheit war es ihm egal, daß diese Mädchen nicht das geringste mit seinem Rachefeldzug zu tun hatten, daß sie unschuldige Opfer waren.«
»Unschuldige Opfer«, höhnte Jia. »Das würden wohl nur wenige so sehen. Aber ein Erzähler hat da natürlich seine eigenen Vorstellungen.«
»Auch das ist aus psychologischer Sicht bedeutsam«, fuhr Chen ungerührt fort. »Er war ja durchaus im Besitz seiner Urteilskraft. Die meiste Zeit agierte er normal, ein Mensch wie du und ich. Also mußte er sein Tun bewußt oder unbewußt rechtfertigen. Er redete sich daher ein, die Mädchen hätten es wegen ihrer Bereitschaft zu sexuellen Dienstleistungen nicht besser verdient.«
»Jetzt verfallen Sie inmitten der Geschichte schon wieder ins Dozieren. Wie Sie vorhin sagten, wir leben in einer Zeit individueller Sichtweisen.«
»Serienmord ist unentschuldbar, egal aus welcher Sicht. Das war auch ihm klar. Dennoch war er
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