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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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nicht bereit, sich selbst als Mörder zu sehen.«
    »Sie haben eine blühende Phantasie, Oberinspektor Chen«, sagte Jia. »Nehmen wir einmal an, Sie veröffentlichen diese Geschichte. Was dann? Sie zeugt nicht gerade von gutem Geschmack und wird einem bekannten Dichter wie Ihnen keine Ehre machen.«
    »Eine Geschichte richtet sich immer an einen impliziten Leser, jemanden, der ganz besonders davon betroffen ist. In diesem Fall ist das selbstverständlich J.«
    »Dann soll es also eine Art Botschaft an ihn sein? Ich weiß, daß du es warst, also stell dich. Aber wie wird J. darauf reagieren?« Jia stellte die Frage mit Bedacht. »Ich kann nicht für ihn sprechen, nur für mich, einen ganz gewöhnlichen Leser. Aber als solcher sage ich Ihnen, daß die Geschichte einer kritischen Prüfung nicht standhält. Das sind Mutmaßungen über Ereignisse, die mehr als zwanzig Jahre zurückliegen. Außerdem basieren sie auf psychologischen Theorien, die der chinesischen Kultur völlig fremd sind. Glauben Sie denn im Ernst, daß J. zur Polizei gehen wird? Es gibt weder Beweise noch Zeugen. Vielleicht darf ich Sie daran erinnern, Genosse Oberinspektor Chen, daß wir nicht länger unter der Diktatur des Proletariats leben.«
    »Bei vier Opfern in einer Stadt werden sich über kurz oder lang Beweismittel finden lassen. Ich arbeite daran.«
    »Als Polizist?«
    »Ich bin Polizist, aber jetzt gerade erzähle ich eine Geschichte. Lassen Sie mich eine Frage stellen: Was macht eine gute Geschichte aus?«
    »Glaubwürdigkeit.«
    »Glaubwürdigkeit entsteht durch lebensnahe, realistische Details. Ich habe hier, mit Ausnahme einiger weniger Abschnitte, nur den groben Verlauf der Geschichte wiedergegeben. In der Endfassung werden alle Einzelheiten enthalten sein. Abstrakte Begriffe wie Ödipus-Komplex kommen dort nicht vor. Ich schildere ganz einfach das sexuelle Verlangen des Knaben nach seiner Mutter.«
    Jia stand unvermittelt auf und goß sich eine Schale Tee ein, die er dann in einem Zug leerte.
    »Wenn Sie so überzeugt sind, daß Ihre Geschichte sich verkaufen wird, dann ist es ja gut. Mich geht das nichts an. Sie haben zu Ende erzählt, und ich gehe jetzt besser – wegen der Vorbereitung für morgen.«
    »Nein, brechen Sie nicht so überstürzt auf, Herr Jia. Mehrere Gänge unseres Menüs stehen noch aus. Außerdem würde ich gerne Ihre Meinung zu einigen weiteren Punkten hören.«
    »Meines Erachtens sind Sie auf eine Sensationsstory aus«, sagte Jia, noch immer stehend, »aber die Leute werden das als makabre Phantasien eines Polizisten abtun, für die er keinerlei Beweise hat. Wieso hätte er sich sonst aufs Geschichtenerzählen verlegt?«
    »Ganz im Gegenteil, sobald der Leser weiß, daß die Geschichte von einem Polizisten stammt, wird er ihr um so mehr Glauben schenken.«
    »In China spricht es nicht unbedingt für die Glaubwürdigkeit einer Geschichte, wenn sie aus offiziellen Quellen stammt«, bemerkte Jia. »Bei näherem Hinsehen weist Ihre Geschichte einfach zu viele Schwachstellen auf. Niemand wird sie ernst nehmen.«
    Das Gespräch wurde erneut von Weißer Wolke unterbrochen. Diesmal war sie wie ein Bauernmädchen gekleidet, in Oberteil und Shorts aus handgewebtem Indigostoff, darüber eine weiße Schürze. Sie war barfuß und brachte eine Schlange im Glaskäfig herein.
    Chen erinnerte sich, wie sie bei ihrer ersten Begegnung im Dynasty Karaoke Club ebenfalls Schlange serviert und sie vor seinen Augen zubereitet hatte.
    Auch diesmal war sie dieser Aufgabe gewachsen. Mit einer raschen Bewegung holte sie das Tier aus seinem Käfig, knallte es wie eine Peitsche auf den Boden und schlitzte ihm dann mit einem scharfen Messer den Bauch auf. Mit einem Ruck riß sie die Gallenblase heraus, die sie in ein Glas mit Schnaps gleiten ließ. Sie mußte das irgendwo gelernt haben.
    Dennoch waren ihre nackten Arme und Beine anschließend mit Schlangenblut bespritzt; die Spritzer auf ihrer weißen, fächerförmigen Schürze hätte man für gefallene Pfirsichblüten halten können.
    »Das hier gebührt dem Ehrengast«, sagte sie und reichte Jia das Schnapsglas mit der grünlichen Gallenblase.
    Ihre Darbietung schien Jia wenig zu beeindrucken, der die Gallenblase zusammen mit dem Schnaps in einem Schluck hinunterspülte. Dann steckte er ihr einen Hundert-Yuan-Schein zu.
    »Für Ihre Bemühungen.« Damit setzte er sich wieder. »Er muß lange gesucht haben, bis er Sie gefunden hat.«
    »Danke.« Sie wandte sich an Chen. »Wie möchten Sie die

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