Blut und rote Seide
Schlange zubereitet haben?«
»Ich folge Ihrem Vorschlag.«
»Dann empfehle ich Meister Lus Spezialmethode, halb gebraten, halb gedämpft.«
»Sehr gut.«
Mit wohlgesetzten Schritten zog sie sich zurück.
»Man ist eben doch nicht so ungestört in einem Lokal«, bemerkte Chen. »Aber Sie hatten mich auf Schwachstellen in der Geschichte hingewiesen.«
»Ja, eine zumindest sehe ich«, antwortete Jia. »In Ihrer Geschichte hätte Jasmine doch die Möglichkeit gehabt, sich seinem Einfluß zu entziehen, trotzdem konnte er sie all die Jahre manipulieren. Warum diesmal nicht? Er ist ein erfindungsreicher Anwalt; statt sie zu töten, hätte er ihre Pläne doch auf andere Weise vereiteln können.«
»Das hat er vielleicht auch versucht, aber es ist ihm aus irgendwelchen Gründen nicht gelungen. Dennoch muß ich Ihnen in diesem Punkt recht geben, Herr Jia.«
Offenbar wollte Jia den Aufbau der Geschichte ins Wanken bringen; Chen war das Engagement seines Gegenübers nur recht.
»Und auch an anderer Stelle überzeugt die Geschichte nicht. Wenn er seine Mutter so leidenschaftlich liebte, warum hat er seine Opfer dann entkleidet und ihnen einen qipao angezogen, der ihn an sie erinnerte? Eine solche Passion hält man doch besser geheim – oder versucht es zumindest.«
»Die kürzeste und einfachste Erklärung wäre, daß sich die Dinge auch ihm selbst widersprüchlich darstellten. Er liebte sie, konnte ihr aber andererseits ihre Tat nicht verzeihen, die er als Verrat empfand. Aber ich habe noch eine kompliziertere Erklärung für dieses psychologische Phänomen. Den Ödipus-Komplex erwähnte ich ja schon, bei dem heimliche Schuld und sexuelles Begehren zusammenspielen. Ein Junge, der im China der sechziger Jahre aufwuchs, mußte seine Sehnsüchte mit allen Mitteln unterdrücken.
In seiner Erinnerung stand der Augenblick, in dem er sie am meisten begehrte, jener Nachmittag, an dem sie den qipao trug, dem Moment seiner schrecklichsten Erinnerung gegenüber, als er sie beim Geschlechtsverkehr mit einem fremden Mann sah. Beides ist für ihn unvergeßlich und unverzeihlich, denn in seinem Unterbewußtsein sieht J. sich als ihren einzigen und wahren Liebhaber. Die beiden Momente sind untrennbar miteinander verbunden, sie bilden die zwei Seiten einer Medaille. Deshalb ist er mit seinen Opfern so verfahren – die Botschaft war widersprüchlich, auch für ihn selbst.«
»Ich bin kein Literaturkritiker«, entgegnete Jia, »aber ich bezweifle, daß eine westliche Theorie sich so einfach auf China übertragen läßt. Für mich als Leser besteht jedenfalls kein zwingender Zusammenhang zwischen dem Tod seiner Mutter und den späteren Morden.«
»Daß es nicht unproblematisch ist, westliche Theorien auf China zu übertragen, gebe ich zu. In der ursprünglichen Geschichte von Ödipus ist die Frau kein Dämon, sondern handelt unwissentlich, sie tut nur das, was unter den Umständen von ihr erwartet wird. Es ist eine schicksalhafte Begebenheit. In J.s Geschichte verhält es sich anders. Dort taucht ein Element auf, das mich zufällig auch in meiner literarischen Seminararbeit beschäftigt. Ich habe nämlich einige klassische Liebesgeschichten analysiert, in denen schöne und begehrenswerte Frauen sich plötzlich in Monster verwandeln, wie etwa in der ›Geschichte der Yingying‹ oder ›Jadeschnitzer Cui und seine Geisterfrau‹. Egal, wie anziehend die Frauen auch sein mögen, es kommt immer auch die andere Seite zum Vorschein, die sich für die Männer als fatal erweist. Ich frage mich, ob das so in der chinesischen Kultur angelegt ist oder im kollektiven Unbewußten der Chinesen. Denkbar wäre es, vor allem wenn man die Institution der arrangierten Heirat in Betracht zieht. Aus dieser Sicht wäre eine Dämonisierung der Frau, vor allem wenn körperliche Liebe eine Rolle spielt, nur verständlich. Wir scheinen es hier mit einer abgewandelten Version des Ödipus-Komplexes zu tun zu haben, mit chinesischen Vorzeichen gewissermaßen.«
»Ihre Ausführungen sind tiefsinnig, aber sie überfordern mich«, sagte Jia. »Sie sollten ein Buch darüber schreiben.«
Chen war selbst überrascht von seiner plötzlichen Redseligkeit Jia gegenüber. Vielleicht war dies die Quintessenz, die er für seine Seminararbeit gesucht hatte, und erst die Parallele zu den Ermittlungen hatte ihm die Augen dafür geöffnet.
»J. wurde von dieser zwanghaften Art des Tötens völlig überwältigt, wobei der Zwang nicht nur aus seinem Unterbewußtsein, sondern
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