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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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zugleich aus dem kollektiven Unbewußten herrührte.«
    »Ihre Theorien interessieren mich nicht, Oberinspektor Chen. Genausowenig werden sich die Leser dafür interessieren. Solange die Geschichte so viele Schwachstellen aufweist, können Sie keine Beweisführung aufbauen.«
    Jia war offenbar überzeugt, daß Chen alle seine Trümpfe ausgespielt hatte und ihm folglich nichts anhaben konnte. So wies er ihn auf die Unklarheiten hin, um dem Polizisten zu zeigen, daß er das Ganze für einen Bluff, für ein lediglich psychologisches Kräftemessen hielt.
    In der Tat gab es Lücken, die nur Jia füllen konnte, überlegte Chen. Da kam ihm eine neue Idee. Warum nicht einfach Jia die Geschichte weitererzählen lassen?
    Es war zwar unwahrscheinlich, daß er kooperieren würde, aber einen Versuch war es wert. Vielleicht konnte er Jia dazu bringen, die Geschichte aus seiner Perspektive zu erzählen, mit anderen Schwerpunkten und Rechtfertigungen. Er mußte nur die Illusion aufrechterhalten, daß es sich um Fiktion handelte.
    »Sie legen den Finger genau auf die richtigen Stellen, Herr Jia. Mal angenommen, Sie wären der Erzähler, wie würden Sie die Geschichte verbessern?«
    »Worauf wollen Sie hinaus?«
    »Auf die Schwachstellen in meiner Erzählung. Einige meiner Erklärungen scheinen Sie nicht überzeugt zu haben. Als Autor frage ich mich natürlich, was Sie als Leser erwarten, was für Sie plausibler wäre.«
    Der Blick, mit dem Jia ihn ansah, verriet, daß er die Falle erkannte. Er ließ sich Zeit mit seiner Erwiderung.
    »Sie sind einer der führenden Anwälte der Stadt, Herr Jia«, fuhr Chen fort. »Ihr juristisches Fachwissen könnte mir weiterhelfen.«
    »Welche der Schwachstellen haben Sie denn im Auge, Oberinspektor Chen?« fragte Jia noch immer wachsam.
    »Zunächst einmal den roten qipao . Untersuchungen zu Stoff und Schnitt haben ergeben, daß das Kleid in den achtziger Jahren angefertigt wurde. Also gut zehn Jahre vor dem ersten Mord. Hat J. denn so lange vorausgeplant? Eher unwahrscheinlich. Aber wieso hat er dann einen so großen Vorrat an Kleidern, sogar in unterschiedlichen Konfektionsgrößen. Hat er vorausgesehen, daß er sie Jahre später für seine Opfer benötigen würde?«
    »Das entzieht sich in der Tat einer Erklärung. Aber als Leser könnte ich mir ein plausibleres Szenario vorstellen, das sich auch in die übrige Geschichte einfügt.« Hier machte Jia eine Pause und nahm gedankenverloren einen Schluck Wein. »Da er seine Mutter so sehr vermißte, versuchte er, das Kleid auf dem Bild nachschneidern zu lassen. Es kostete ihn einige Mühe, den richtigen Stoff zu finden – diese Art wurde längst nicht mehr hergestellt – und den alten Schneider aufzustöbern, der das Original angefertigt hatte. Er entschied sich daher, gleich den gesamten Stoff verarbeiten und mehrere Kleider nähen zu lassen. Eines davon würde dem Original nahekommen. Damals wußte er noch nicht, wofür sie später zum Einsatz kommen würden.«
    »Hervorragend, Herr Jia. Er lebt noch immer in jenem Moment, als das Foto mit ihr aufgenommen wurde. Da leuchtet es ein, daß er sich an etwas aus jener Zeit zu klammern versucht. Etwas Greifbares, das ihn von der Existenz dieses Augenblicks überzeugt«, sagte Chen nickend. »Und nun zu der zweiten Schwachstelle, auf die Sie mich hingewiesen haben. Sie haben recht, er hätte Jasmines Pläne auch trickreich vereiteln können. Außerdem war Jasmine nicht wie die anderen Opfer. Sie wäre wohl kaum mit einem Fremden ausgegangen.«
    »Wie können Sie überhaupt so sicher sein, daß er plante, sie umzubringen? Vielleicht hat er ja versucht, ihr die Leidenschaft für diesen Mann auszureden, und dann ist etwas dazwischengekommen.«
    »Aber wie, Herr Jia? Wie hätte er ihr diese Liebe ausreden können?«
    »Ich bin kein Schriftsteller, aber vielleicht hat er etwas über ihren Liebhaber herausgefunden – etwas, das ein zweifelhaftes Licht auf seine Geschäfte oder seine Ehe warf – und arrangierte daraufhin ein Treffen mit ihr.«
    »Das würde auch erklären, warum sie ihm aus freien Stücken gefolgt ist. Phantastisch.«
    »Er wollte, daß sie die Verbindung zu diesem Mann abbrach, aber sie war uneinsichtig. Daraufhin drohte er mit Konsequenzen, damit, ihre Beziehung aufzudecken oder ihren Liebhaber der Bigamie zu bezichtigen. Während dieser Auseinandersetzung begann sie zu schreien und zu toben. Er drückte ihr die Hand auf den Mund, um sie zum Schweigen zu bringen. Wie in Trance verwandelte

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