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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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er sich plötzlich in Tian und tat mit ihr, was Tian mit seiner Mutter getan hatte. Eine verblüffende Erfahrung, fast wie eine Reinkarnation. Es war Tian, der über sie herfiel …«
    »Nur daß ihn in letzter Minute der Gedanke an seine Mutter erneut der Manneskraft beraubte. Daraufhin erwürgte er sie, anstatt sie zu vergewaltigen. Das erklärt die Abschürfungen an Armen und Beinen und die Tatsache, daß er sie anschließend gewaschen hat. Vorsichtig wie er ist, fürchtete er, bei dem mißglückten Vergewaltigungsversuch Spuren hinterlassen zu haben.«
    »Das ist nun wieder Ihre Version, Oberinspektor Chen.«
    »Danke, Herr Jia, Sie haben das Problem für mich gelöst«, sagte Chen und leerte sein Glas. »Nur eine Sache noch. Er hat die Leichen an öffentlichen Plätzen deponiert. Eine Trotzreaktion, so wie ich das verstehe. Das letzte Opfer jedoch lag auf einem Friedhof. Warum? Wenn der Grabräuber nicht zufällig auf die Tote gestoßen wäre, hätte sie womöglich tagelang unentdeckt dort gelegen.«
    »Sie kennen die Geschichte dieses Friedhofs?«
    »Nein.«
    »In den fünfziger Jahren war er eine Ruhestätte für Reiche. Es gibt also eine simple Erklärung. Seine Familie ist dort begraben.«
    »Aber Vater und Mutter wurden verbrannt, die Asche vernichtet. Damals ist auch der Friedhof verwüstet worden. Keine seiner unmittelbaren Angehörigen liegen dort.«
    »Manche Familien haben ihre Grabstätten lange vorher erworben. Auch sein Großvater und seine Eltern könnten das getan haben. In seiner Vorstellung war es jedenfalls immer die letzte Ruhestätte seiner Mutter …«
    In diesem Moment begann Chens Mobiltelefon zu klingeln. Eine ungewöhnliche Zeit für einen Anruf. Chen nahm ihn hastig entgegen. Es war Direktor Zhong.
    »Dem Himmel sei Dank, daß ich Sie endlich aufgespürt habe, Oberinspektor Chen«, begann Zhong. »Das Zentralkomitee der Partei in Beijing hat einen Beschluß bezüglich des Wohnungsbauskandals gefaßt.«
    »So?« Chen wandte sich ab. »Sie meinen, was den Ausgang der Gerichtsverhandlung betrifft?«
    »Es ist ein schwieriger Fall, aber er gibt uns Gelegenheit zu demonstrieren, daß die Partei es ernst meint mit dem Kampf gegen die Korruption. Die Öffentlichkeit sieht Peng als den Hauptverantwortlichen. Wir werden ein Exempel an ihm statuieren.«
    »Ich bedauere, daß ich im Vorfeld nicht sonderlich hilfreich sein konnte. Aber morgen werde ich natürlich dasein. Diese korrupten Beamten müssen bestraft werden.«
    Zhong konnte nicht ahnen, daß dieses Gespräch in Gegenwart von Jia geführt wurde.
    »Dann sehen wir uns also morgen im Gerichtssaal«, sagte Zhong.
    Nachdem er das Telefonat beendet hatte, wandte Chen sich wieder Jia zu. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung.«
    In dem Moment schlug die Standuhr aus Mahagoni erneut, die Schläge erinnerten an eine Tempelglocke.
    Mitternacht.

30
    ES WAR EIN neuer Tag angebrochen.
    Chen warf einen Blick auf die Mahagoni-Uhr. Der Restaurantbesitzer hatte die üppige Glitzerwelt des alten Shanghai bis ins Detail wieder aufleben lassen. Die Standuhr schien ein antikes Stück zu sein, das die Zeitläufte unbeschadet überdauert hatte; sein auf Hochglanz poliertes Messingpendel funkelte wie neu.
    Nun war Freitag, vielleicht war es Chen ja gelungen, den teuflischen Kreislauf zu durchbrechen. Jia hätte nun kaum noch die Möglichkeit, vor der Verhandlung einen weiteren Mord zu begehen.
    Chen griff nach der silbernen Tischglocke und klingelte.
    Daraufhin erschien Weiße Wolke in einem fließend fallenden, geblümten Kleid, das sie wie eine Blume der Nacht erscheinen ließ. »Ja bitte?«
    »Bringen Sie jetzt den Hauptgang«, sagte Chen. »Und denken Sie an alle Einzelheiten.«
    »Alle Einzelheiten«, wiederholte sie und zündete zwei Kerzen auf dem Tisch an, bevor sie ging.
    Jia verfolgte kommentarlos die ungewöhnlichen Anweisungen des Oberinspektors.
    Chen steckte sich eine Zigarette an. Eine plötzliche Stille lastete über dem Raum, nur das Ticken des antiken Uhrpendels war zu hören.
    Dann gingen die Lichter aus, und das Séparée wurde nur noch von den beiden Kerzen erleuchtet, deren Flammen im Luftzug der sich öffnenden Tür flackerten.
    Weiße Wolke war im roten qipao zurückgekehrt, die Seitenschlitze waren bis weit hinauf eingerissen, mehrere Knöpfe an der Brust standen offen. Ihre nackten Füße schimmerten auf dem Teppich.
    Jia sprang auf, aus seinem Gesicht war jegliche Farbe gewichen, als sähe er einen Geist.
    In einer songzeitlichen

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