Blut und rote Seide
Geschichte um den Richter Bao hatte Chen gelesen, daß ein Mörder aus Schreck über das Erscheinen des Geistes seines Opfers die Tat gestand. Damals waren die Menschen eben noch abergläubisch und beugten sich dem Zorn der Geister.
Jia hingegen versuchte Haltung zu bewahren. Er sank in seinen Stuhl zurück, wischte sich die Stirn mit einer Papierserviette und vermied es, Weiße Wolke anzusehen.
Diesmal hatte sie ein Glasgefäß mit Gasbrenner dabei. Während sie den Brenner abstellte und sich vorbeugte, um ihn anzuzünden, konnte man im aufgeknöpften Ausschnitt des Kleides ihre Brüste sehen.
In dem Glasgefäß auf dem Brenner schwamm unverdrossen eine Schildkröte. Offenbar spürte sie den Temperaturanstieg noch nicht. Da die Flamme des Brenners klein gestellt war, würde sich der Kochvorgang dieser grausamen Schildkrötensuppe eine Zeitlang hinziehen.
»Eine Spezialbrühe aus Huhn und Kammuscheln«, erläuterte Weiße Wolke. »Die Schildkröte nimmt in ihrem Todeskampf die Essenz der Brühe in sich auf, was dem Fleisch ein besonderes Aroma gibt. Außerdem machen ihre Bewegungen die Suppe delikater.«
»Ein seltsames Gericht, ein sonderbares Lokal«, bemerkte Jia, der die Fassung wiedergewonnen hatte, aber heftig schwitzte. »Selbst die Bedienung trägt ein entsprechend dramatisches Outfit.«
»Dies hier war früher eine Privatvilla und die Hausherrin eine stadtbekannte Schönheit; vor allem wenn sie ihren eleganten roten qipao trug«, erklärte Chen. »Ich frage mich, ob sie tatsächlich jemals ein solches Kleid anhatte oder ein so grausames Gericht auf den Tisch brachte. Es gleicht einem Mord, bei dem das ahnungslose Opfer verzweifelt gegen das unausweichliche Unheil ankämpft.«
»Eigenartige Assoziationen haben Sie, Oberinspektor Chen.«
Jia hatte nun ein ähnliches Schicksal ereilt, auch er kämpfte einen aussichtslosen Kampf. Als Chen in das Glasgefäß schaute, sah er einen Moment lang den kleinen Jungen, der die Hand gegen das unabwendbare Schicksal erhob. Ihm wurde übel.
Dennoch war es seine Pflicht als Polizist, diesen Mann für die Morde an Jasmine, den anderen Mädchen und Hong, seiner Kollegin, zu bestrafen.
»Unmenschlich grausam«, murmelte er unwillkürlich vor sich hin. »Aber ich kann das auch.«
»Sie verlieren sich in Ihren hochfliegenden Phantasien, Oberinspektor.«
»Keineswegs«, entgegnete Chen.
Er stand auf, nahm seinen Trenchcoat vom Garderobenständer und legte ihn Weißer Wolke um die Schultern. Dann schloß er einen der Knöpfe an ihrem Ausschnitt und sagte: »Danke für Ihre Hilfe. Wir werden Sie jetzt nicht mehr benötigen. Ziehen Sie sich warm an. Heute ist dongzhi , da wollen Sie sicher nach Hause zu Ihrer Familie.«
»Nein«, antwortete sie errötend, was sie in Chens Augen noch attraktiver erscheinen ließ. »Ich werde draußen auf Sie warten.«
Als sie gegangen war, sagte er zu Jia: »Heute ist nicht die Nacht der Geschichten oder der Spezialmenüs, Herr Jia, und das wissen Sie.«
»Sie meinen, daß heute Wintersonnenwende ist? Das weiß ich wohl.«
»Zuerst möchte ich mich bei Ihnen bedanken, daß Sie die Lücken im Fall der qipao -Morde für mich geschlossen haben«, sagte Chen. »Die Stunde der Abrechnung ist gekommen.«
»Wie bitte? Worauf wollen Sie hinaus? Sie sagten doch, Sie wollten mir eine Geschichte erzählen. Ich habe schon vermutet, daß etwas hinter dieser Geschichte steckt, aber was hat das mit den qipao -Morden zu tun?«
»Schluß mit dem Theater. Sie, Herr Jia, sind der Protagonist der Geschichte und der Mörder im qipao -Fall.«
»Aber, aber, Oberinspektor Chen. Schreiben darf man, was man möchte, aber Ihre Anschuldigungen sind völlig aus der Luft gegriffen … Sie haben keinerlei Beweise dafür und nicht den Schatten eines Zeugen.«
»Beides werden wir beizeiten vorlegen, aber vielleicht ist das gar nicht nötig. Der Mörder wird reden – auch ohne Beweise und Zeugen.«
»Damit haben Sie die Grenze zur Fiktion endgültig überschritten. Als Leser sehe ich nicht, wie Sie als Polizist in einem Fall wie dem in Ihrer Geschichte eine Strafverfolgung einleiten wollen.« Jia blieb ruhig und spielte weiter die Rolle eines unbeteiligten Lesers. »Wenn sich der Polizist so sicher wäre, hätte er wohl einen Fallbericht geschrieben, keine Fiktion.«
»Sie sprechen immer von Fiktion, Herr Jia. Aber es gibt ja auch noch die Kategorie Non-fiction. Sachbücher verkaufen sich heutzutage im Buchhandel sogar besser.«
»Was meinen Sie mit
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