Blut und rote Seide
kopfschüttelnd, wie eine hilflose Pflanze, die über Nacht der Frost erwischt hat.
Das Telefon hörte nicht mehr auf zu klingeln: die Stadtregierung, die Presse, besorgte Bürger. Jeder redete von dem Serienkiller, der Shanghai heimsuchte und die Polizei an der Nase herumführte.
Drei Opfer innerhalb von drei Wochen, das war ein harter Schlag für die Polizeikräfte. Und wenn ihre Ermittlungen weiterhin auf der Stelle traten, mußten sie Ende kommender Woche womöglich mit einer vierten Leiche rechnen.
Yus sämtliche Kollegen waren im Einsatz und hatten die Fahndung noch intensiviert. Die Spurensicherung befand sich am Fundort, eine Telefonleitung für Hinweise aus der Bevölkerung war eingerichtet worden, jeder verfügbare Streifenwagen war unterwegs.
Ein Bild des Opfers war überall angeschlagen und per Fax verbreitet worden. Es wäre zwecklos, den neuen Mord vertuschen zu wollen, und man versuchte es gar nicht erst. Die Zeitungen waren voll makabrer Fotos, kommentiert mit grausigen Schilderungen. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Buschfeuer und hatte bald die ganze Stadt in Aufruhr versetzt.
Yu drückte gerade seine vierte Zigarette aus, als Liao mit dem vorläufigen medizinischen Untersuchungsbericht hereinstürmte. Es galt inzwischen als erwiesen, daß die Frau erstickt war. Blässe und Leichenstarre hatten Yus Schätzung der Tatzeit bestätigt. Wie beim zweiten Opfer wies nichts darauf hin, daß die Frau vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr gehabt hatte.
Da das zweite Opfer ein Dreispartengirl gewesen war, schlug Liao vor, sich bei der Identifizierung der Leiche auf das Unterhaltungsgewerbe zu konzentrieren. Yu, der diesen Ansatz für sinnvoll hielt, stimmte zu.
Tatsächlich stellte sich bereits gegen elf Uhr heraus, daß es sich um Tang Xiumei handelte, eine Sängerin oder besser gesagt ein K-Mädel vom Musicbox Karaoke Center. Der Geschäftsführer hatte sie, durch die vorigen Fällen alarmiert, auf einem Fax des Fahndungsfotos erkannt.
»Was hab ich Ihnen gesagt?« bemerkte Liao voller Genugtuung und wedelte mit dem Fax.
Was solche K-Mädels in den Séparées der Karaoke-Clubs trieben, war stadtbekannt. Fand einer von diesen Neureichen Gefallen an ihnen, konnte er Dienstleistungen fordern, die weit über das Singen hinausgingen. Diese fanden meist außerhalb der Clubs statt und wurde als »Begleitservice« extra honoriert, die Etablissements unternahmen nichts dagegen. Doch im vorliegenden Fall gaben die Kolleginnen an, Tang sei am fraglichen Abend gar nicht im Club erschienen, bei ihr offenbar nichts Ungewöhnliches.
Nach Aussagen des Geschäftsführers war Tang weder an jenem noch am vorigen Abend zur Arbeit gekommen. Was ein Mädchen außerhalb ihrer Arbeitszeit tat, ging den Club nichts an. Man konnte also ausschließen, daß der Mörder sein Opfer am Donnerstag abend im Club getroffen hatte.
Auch Rückfragen bei den Kunden der vorangegangenen Abende brachten die Ermittler nicht weiter; Tangs Stammgäste hatten durchweg solide Alibis, und von den neuen hatte keiner Name und Anschrift hinterlassen.
Yu rief bei Tangs Nachbarschaftskomitee an, und dessen Leiter, ein gewisser Liu Yunfei, der im selben Block wohnte wie Tang, nahm ab.
»Was soll ich über das Mädchen sagen? Materialistisch bis in die Knochen. Tangs Wahlspruch war: Eine gute Partie ist wichtiger als eine gute Stelle. Deshalb arbeitete sie im Karaoke-Club. Sie wollte sich einen dieser Geldsäcke angeln.«
»Ist Ihnen in den letzten Tagen irgend etwas Ungewöhnliches an ihr aufgefallen?«
»Sie hat kaum mit den Nachbarn gesprochen. Wenn sie sich schon nicht schämte, uns hier war ihr Lebenswandel peinlich.«
»Haben ihre Nachbarn am Donnerstag etwas bemerkt?«
»Nun, Tante Xiong, die auf demselben Stock wohnt, sagt, Tang sei am Donnerstag früher als gewöhnlich weggegangen. Gegen drei. Sonst verließ sie immer erst gegen Abend das Haus. Da begann ihre Schicht. Aber wir kannten ihren Arbeitsplan natürlich nicht so genau.«
»Sie hat also den ganzen Tag zu Hause verbracht?«
»Nicht unbedingt. Sie hatte alles mögliche zu erledigen. Aber wenn sie zur Arbeit ging, richtete sie sich her wie eine Hure. Immer in Seidenstrümpfen und Stöckelschuhen, dann wußten wir Bescheid.«
»Könnten Sie mir einen Bericht schreiben?« bat Yu. »Mit allem, was Sie und die Nachbarn über Tang wissen.«
Anschließend rief Yu noch einige ihrer Nachbarn und Kollegen an, aber nach einer guten Stunde wußte er auch nicht mehr, als er bereits von
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