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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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und tunkte ein paar Ingwerstreifen in ein Schälchen mit Essig. Eines der Schälchen hatte einen Sprung, ganz wie in jenen Tagen, als er mit seinem Cousin Peishan hiergewesen war.
    Peishan war in den frühen Siebzigern als einer der ersten gebildeten Jugendlichen aufs Land verschickt worden, um von der »armen und unteren Klasse der Mittelbauern umerzogen zu werden«. Vor seiner Abreise aus Shanghai hatte er Chen in dieses Lokal eingeladen, das, wie seinerzeit üblich, nur Angehörigen der Arbeiterklasse zugänglich war; so entsprach es der »ruhmreichen Parteitradition von harter Arbeit und einfachem Leben«. Kulinarische Genüsse galten als dekadenter, bürgerlicher Exzeß. Essen diente vornehmlich dazu, den Menschen Kraft für die Revolution zu geben. Daher waren viele der besseren Restaurants geschlossen worden. Das Nanxiang war eine glückliche Ausnahme, was es seinen unerhört niedrigen Preisen verdankte: Die Bambusdämpfer waren selbst für die Arbeiterklasse erschwinglich. An jenem Nachmittag hatten Peishan und Chen geschlagene drei Stunden geduldig gewartet, um dann eine riesige Bestellung aufzugeben: Vier Bambusdämpfer für jeden. Das lange Warten hatte sie hungrig gemacht, und Peishan fragte sich wehmütig: »Wann werde ich nach Shanghai zu diesen herrlichen Suppenklößchen zurückkehren?«
    Cousin Peishan war nicht zurückgekehrt. Er hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten und sich in einen ausgetrockneten Brunnen gestürzt, wo er elendig verhungert war.
    Zwanzig Jahre sind verflogen wie ein Traum.
    Ein Wunder, daß ich heute hier bin!
    Chen beschloß, Weißer Wolke diese Episode aus der Kulturrevolution zu ersparen, sie paßte nicht zur derzeit angesagten Nostalgie. Eine junge Frau ihrer Generation würde dafür kein Verständnis haben.
    Doch die Suppenklößchen schmeckten noch immer wunderbar und lagen appetitlich und heiß in den goldfarbenen Bambuskörbchen. Ihre Füllung vereinigte aufs beste den Geschmack von Wasser und Land, und die leuchtendroten Krebsovarien glitzerten dekorativ im Nachmittagslicht. Die Teighülle barst bei der leisesten Berührung der Lippen, worauf der delikate Fleischsaft in den Mund strömte.
    »Ich habe in einem Kochbuch gelesen, daß der Fleischsaft in den Klößchen von der Schweineschwarte kommt, die dem Hackfleisch in kleinen Stücken beigemischt wird. Im heißen Dampf verflüssigt sie sich. Beißen Sie vorsichtig hinein, sonst verbrennt Ihnen die kochendheiße Flüssigkeit die Zunge.«
    »Davor haben Sie mich schon einmal gewarnt«, bemerkte sie lächelnd und knabberte behutsam, bevor sie zu saugen begann.
    »Ach ja, während des New-World-Projekts haben Sie mir mal eine Tüte davon gebracht.«
    »Es war mir ein Vergnügen, Ihre Kleine Sekretärin zu sein.«
    »Und heute muß ich Sie schon wieder um einen Gefallen bitten«, sagte er. »Sie sind doch versiert im Umgang mit dem Computer. Könnten Sie im Internet für mich recherchieren?«
    »Natürlich. Wenn Sie möchten, kann ich Mr. Gus Laptop zu Ihnen nach Hause bringen.«
    »Nein, das wird diesmal nicht nötig sein«, wehrte er ab. »Sie haben sicher vom qipao -Mord gehört. Können Sie mir Informationen über diesen Kleidertyp beschaffen – eine umfassende Studie über seine Geschichte, Entwicklung und den Stilwandel in unterschiedlichen Epochen? Alles, was direkt oder indirekt mit solchen Kleidern in Verbindung steht, nicht nur in unserer Zeit, sondern auch in den fünfziger und sechziger Jahren.«
    »Kein Problem«, entgegnete sie. »Aber was genau meinen Sie mit direkter oder indirekter Verbindung?«
    »Ich wünschte, ich könnte präziser sein; zum Beispiel ein Film oder ein Buch, in dem ein solches Kleid eine wichtige Rolle spielt, oder auch jemand, der bekannt dafür war, solche qipaos zu tragen oder herzustellen, jeder bedeutende Kommentar, auch kritischer Natur, und natürlich vor allem Kleider, die dem fraglichen Modell in Schnitt und Farbe ähneln. Außerdem müßten ein paar Besorgungen gemacht werden.«
    »Was immer Sie wünschen, Chef.«
    »Über die Kosten brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Mein Etat für dieses Jahr ist noch nicht aufgebraucht. Wenn ich das Geld nicht bald ausgebe, wird mir das Präsidium nächstes Jahr die Zuwendungen kürzen.«
    »Dann werden Sie also nicht kündigen, Oberinspektor Chen?«
    »Nun …« Er unterbrach sich, denn die heiße Brühe rann, trotz aller Vorsicht, über sein Kinn. Sofort reichte sie ihm eine rosa Papierserviette. Der Beruf eines Oberinspektors

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