Blut und rote Seide
bleibt nur eine Woche, Inspektor Liao. Und selbst wenn diese Vermutung zuträfe, könnte er anderswo ärztliche Hilfe gesucht haben.«
»Die meisten Sexmörder sind impotent«, bemerkte Yu. »Chen sagt, der Mord ist für sie eine Art geistiger Orgasmus. Das spräche gegen die Theorie mit der Ansteckung.«
»Ich finde, Liao hat recht«, insistierte Hong. »Von den drei Opfern haben zwei sexuelle Dienstleistungen angeboten. Das könnte auf ein Muster hinweisen. Oft haben die Opfer etwas gemeinsam, was die sexuellen Phantasien des Mörders stimuliert. Schon möglich, daß eines dieser Amüsiermädchen ihn verletzt hat, aber offenbar hegte er einen Groll gegen alle drei.«
»Und was schlagen Sie vor?« wollte Li wissen.
»Mein Vorschlag basiert auf Inspektor Liaos Analyse. Falls der Täter erneut zuschlägt, dann vermutlich im selben Personenkreis. Wir sollten einen Lockvogel losschicken.«
»In dieser Stadt gibt es so viele Karaoke-Bars, Nachtclubs und Restaurants«, bemerkte Yu. »Wie sollen wir ahnen, wo er sich sein nächstes Opfer suchen wird?«
»Ich bezweifle, daß er sich wiederholen wird.«
»Erläutern Sie das.« Lis Interesse schien geweckt.
»Nach Jasmine kam ein Tischfräulein, danach ein K-Mädel. Gemäß den drei Dienstleistungen Essen, Singen, Tanzen wäre jetzt eine Tänzerin dran. Der Täter folgt seinen Prinzipien«, erklärte Hong. »Er wird sein nächstes Opfer in einem der einschlägigen Etablissements der Stadt aufgabeln. Die Mädchen dort sind, wie schon gesagt, leichte Beute. Abgesehen davon hat er einen Hang zur Symbolik. Der rote qipao ist nur ein Teil seines ausgetüftelten Plans. Also wird das nächste Opfer vermutlich eine Tänzerin sein.«
»Aber einen Lockvogel auf ihn anzusetzen – das ist ja, als wollte man darauf warten, daß ein Kaninchen gegen einen Baum prallt und tot umfällt. Ich habe mit Chen gesprochen, er glaubt, daß wir es mit einem unberechenbaren Psychopathen zu tun haben.«
»Haben Sie vielleicht eine bessere Idee?« wandte Li sich unwirsch an Yu. »Oder vielleicht Ihr Oberinspektor Chen?«
»Das Präsidium ist offenbar ein zu kleiner Tempel für seinesgleichen«, fiel Liao ein.
Yu traf diese offene Feindseligkeit der beiden völlig unerwartet, und er erwiderte nichts.
So hatte niemand Einwände gegen Hongs Vorschlag. Und keiner konnte Li eine bessere Idee bieten. Also würde Hong am Nachmittag eine Tanzveranstaltung aufsuchen.
Im Anschluß an die Besprechung sah Yu sich veranlaßt, Chen zu informieren. Er hielt es für unwahrscheinlich, daß dieser sich nach der Schlagzeile »Shanghai im Ausnahmezustand« weiterhin in seinen Büchern vergraben würde.
Als er zum Hörer griff, wußte er auch, wie er sich Chens volle Aufmerksamkeit sichern konnte.
»Ich muß mit Ihnen reden, Chef. Treffen wir uns im Bund-Park.«
»Wieso im Bund-Park?«
»Dort wurde heute morgen das dritte Opfer im roten qipao gefunden, nicht weit vom Tai-Chi-Treff, direkt am Bund. Einen Steinwurf vom Park entfernt.«
»Was – eine dritte Leiche? Am Bund?«
»Ja, alles weitere steht in den Zeitungen. Vielleicht finden Sie auch einen Leserbrief, der sich fragt: Was macht eigentlich unser Oberinspektor Chen?«
»Bin schon unterwegs.«
14
ZWANZIG MINUTEN SPÄTER war Yu wieder am Bund.
Er entschied sich für eine der grünen Bänke, von denen man den Park überblickte sowie das Gebüsch, wo er vor kurzem die Leiche untersucht hatte. Eine Gruppe Schaulustiger stand noch immer dort. Die Anordnung der Büsche hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Blumenbeet, in dem man das erste Opfer gefunden hatte, doch das war wohl Zufall. Yu glaubte nicht, daß der Mörder die Leiche aus diesem Grund hier abgelegt hatte.
Wegen des starken Verkehrs auf der Zhongshan Lu war der Fundort nicht abgesperrt worden. Das gelbe Absperrband hätte nur noch mehr Neugierige angelockt. Außerdem wäre es nutzlos gewesen, sämtliche Beweismitteln waren längst verschwunden.
Er mußte nicht lange warten, bis er Chen in der Menge auftauchen sah. Die meisten Umstehenden überragend, kam er die Treppe herauf. Er trug einen Trenchcoat und eine Aktentasche. Die Gläser seines Schildpatt-Brillengestells waren bernsteinfarben, was die breite Stirn betonte. Offenbar wollte Chen vermeiden, daß einer der sensationshungrigen Reporter ihn erkannte. Auf der obersten Treppenstufe angelangt, nahm er die Brille ab, entdeckte Yu und setzte sich neben ihn.
»Was halten Sie von der Wahl des Ortes?« fragte Yu.
»Eine gezielte
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