Blut und rote Seide
Provokation. Irgendwelche Hinweise?«
»Nein. Wie bei den ersten beiden Opfern keinerlei Indizien.«
»Ein sexueller Übergriff?«
»Nein. Jedenfalls deutet nichts darauf hin, abgesehen von der fehlenden Unterwäsche und dem roten Kleid.«
»Identität?«
»Diesmal ging es schnell. Eine Sängerin«, sagte Yu und ersparte seinem Chef die Details. »Sie war ein K-Mädel.«
»Also wieder eine aus dem Unterhaltungsgewerbe.«
»Ja, deshalb versteift Liao sich jetzt auf diese Szene«, erklärte Yu. »Er sieht darin ein Motiv, ein Muster – Haß auf leichte Mädchen und das Sexgeschäft. Das entspricht Ihrer Vermutung, daß der Täter ein Psychopath ist. Und paßt zu den roten Kleidern.«
»Der rote qipao ist zweifellos von Bedeutung. Auch die Analyse der Täter-Opfer-Beziehung scheint mir sinnvoll. Das erste Opfer paßt allerdings nicht in dieses Schema.«
»Das war auch mein Einwand.«
»Und noch etwas verstehe ich nicht«, sagte Chen. Er war aufgestanden und starrte in das Gebüsch hinunter. »Warum ist er das Risiko eingegangen, die Leiche am Bund loszuwerden, wo er doch genau weiß, daß hier die ganze Nacht über Leute und Autos vorbeikommen.«
»Eitelkeit vermutlich. Eine Trotzreaktion, mit der er uns eine Lektion erteilen will. Wie Sie sagten, ein Serienmörder hat eine Handschrift, eine besondere Art, wie er seine Morde begeht. In diesem Fall gehört das Ablegen der Leiche an einem öffentlichen Ort dazu. Wie irrational das auch erscheinen mag, aus seiner perversen Sicht ist es offenbar folgerichtig.«
»Etwas daran irritiert mich, Yu. Nicht seine Unverfrorenheit, sondern die Verzweiflung, die daraus spricht.«
»Was meinen Sie damit, Chef?«
»Dieser Mensch steht mit dem Rücken zur Wand. Er hat nichts zu verlieren. Vielleicht ist es Todessehnsucht, die ihn antreibt«, antwortete Chen, führte diesen Gedanken aber nicht weiter aus. »Und wie werden die Ermittlungen jetzt fortgesetzt?«
»Hong will sich als Lockvogel zur Verfügung stellen, sie gibt sich als Tänzerin aus.«
»Ein Lockvogel ist eine gute Taktik, sofern man das Handlungsmuster des Täters kennt«, sagte Chen. »Das mit der Tänzerin klingt überzeugend. Doch bei all den Unwägbarkeiten ist es fraglich, ob er innerhalb einer Woche anbeißen wird. Außerdem kann es gefährlich werden für den Lockvogel.«
»Ja, das beunruhigt mich auch. Sie ist noch nicht lange im Dienst.«
»Falls sie auf dieser Idee besteht, muß jemand abgestellt werden, der immer in ihrer Nähe bleibt.«
»Ich werde mit Liao darüber sprechen.«
»Außerdem muß ihr Einsatz geheim bleiben.«
»Auch innerhalb des Präsidiums?«
»Nicht in der Einsatzgruppe natürlich, aber darüber hinaus schon. Es ist nicht auszuschließen, daß der Täter über entsprechende Kontakte verfügt.« Chen runzelte die Stirn. »Denken Sie an die Aktion am Bund letzte Nacht. Womöglich wußte er von den Streifengängen der Nachbarschaftskomitees. Der Bund ist einer jener öffentlichen Orte – womöglich der einzige –, der von solchen Patrouillen ausgenommen war. An der Zhongshan Lu gibt es nur staatliche und private Büro- und Geschäftshäuser. Das ist kein Wohnviertel, also gibt es auch keine Nachbarschaftskomitees. Und die Polizeistreifen allein konnten das Gebiet nicht ausreichend abdecken.«
»Könnte auch Zufall sein.«
»Hier hat Parteisekretär Li ausnahmsweise einmal recht. Der Fundort am Bund ist eine Botschaft, und zwar eine politische. Ich bezweifle, daß der Täter damit gegen die Dreispartengirls zu Felde zieht. Die Botschaft birgt ein Geheimnis, sie ist widersprüchlich. Aber vielleicht sind es gerade diese Widersprüche, die uns Zugang zur Person des Täters verschaffen, ähnlich wie die Symptome bei einer Psychoanalyse. Für meine literarische Studie habe ich übrigens einen ganz ähnlichen Ansatz gewählt«, fügte er hinzu.
»Wirklich?« sagte Yu. »Wie interessant. Aber bitte zeigen Sie mir vorerst die Widersprüche dieses Falles auf.«
»Dazu muß ich Ihnen kurz von meinem Referat erzählen«, beharrte Chen. »Ich habe einige klassische Liebesgeschichten gelesen, deren widersprüchliche Aussagen mir sonderbar vorkamen. Irgend etwas hat mich an die Sache mit dem roten qipao erinnert.«
»Oder umgekehrt«, murmelte Yu ungehalten. Das war wieder mal typisch für seinen lesewütigen Chef. Drei Mordopfer in drei Wochen, und der Oberinspektor dozierte über seine literarischen Studien.
»Ein Analysepatient leidet unter Problemen oder Widersprüchen, die
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