Blut und rote Seide
Modegeschäft. Dann half er ihr in den Mantel.
»Vielen Dank«, sagte sie melancholisch. »Ich muß jetzt in die Uni.«
Er beschloß, zu Fuß nach Hause zu gehen, allein.
Es kostete ihn einige Anstrengung, das Bild ihres mit dem Kleid kämpfenden Körpers zu vertreiben, zumal es immer wieder von einem anderen überlagert wurde: Sie, nackt, in einem Séparée des Dynasty Karaoke Club, in Gesellschaft fremder Männer.
Er verbat sich diesen Gedanken. Sie hatte sich für seine Ermittlungen eingesetzt, und er hatte stets nur das K-Mädel vor Augen, das, mit oder ohne qipao , seine Phantasie erregte.
Ja, sie erregte ihn.
Er dachte an die Geschichten, in denen Frauen als Unruhestifter und Monster dargestellt wurden. Subjektivität existiert nur in Abhängigkeit vom herrschenden Diskurs – ein Gedanke aus einem Buch über postmoderne Literaturkritik, das er im Zusammenhang mit seiner Arbeit über klassische Liebesgeschichten konsultiert hatte.
Vielleicht war es ja vielmehr umgekehrt: diese Geschichten lasen ihn.
13
AM FRÜHEN FREITAG morgen wurde eine weitere Leiche im roten qipao gefunden, und zwar ebenfalls an einem provokant öffentlichen Ort – in einem Gebüsch am Bund unweit der Kreuzung Jiujiang und Zhongshan Lu.
Gegen fünf Uhr morgens war Nanhua, ein pensionierter Lehrer, auf dem Weg zu einem kleinen Platz gewesen, dem sogenannten Tai-Chi-Treff, auf der erhöhten Uferpromenade nahe der Kreuzung. Er wollte eben die Steinstufen hinaufsteigen, als er im Gebüsch unterhalb des Hochufers die Leiche entdeckte. Sein Rufen lockte Schaulustige an, Reporter, die Frühschicht hatten, eilten aus ihren nahe gelegenen Büros herüber. Erst nachdem sie die Leiche von allen Seiten fotografiert hatten, kam einer von ihnen auf die Idee, das Präsidium zu verständigen.
Als Yu und seine Kollegen eintrafen, glich der Fundort einem morgendlichen Bauernmarkt, ein lautes Durcheinander von Leuten, die Kommentare abgaben und Vergleiche zogen, als feilschten sie um Ware.
Dies war nicht nur ein Ort, an dem die ganze Nacht Betrieb herrschte, er lag auch im Bereich »erhöhter Sicherheitsüberwachung«. Daß der Mörder die Leiche hierhergebracht hatte, sprach für sich. Seine Botschaft war deutlicher denn je.
Der Täter mußte die Leiche aus dem fahrenden Auto geworfen haben. Ein bewußtes Arrangement wie in den anderen beiden Fällen war hier nicht möglich gewesen. Also lag die Leiche, wie sie gefallen war: auf dem Rücken, die Arme über dem Kopf. Aber sie trug wieder einen qipao , ebenfalls mit eingerissenen Seitenschlitzen und losen Knöpfen. Das linke Bein war angewinkelt und gab den Blick auf ihr Schamhaar frei, das sich dunkel gegen die weißen Schenkel abzeichnete. Sie war schätzungsweise Anfang Zwanzig, allerdings stark geschminkt.
»Dieses Schwein«, stieß Yu zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als er neben der Leiche hockte und sich die Gummihandschuhe überstreifte.
Wie bei den ersten beiden Opfern war der Tod offenbar durch Ersticken eingetreten. Ihre blutleeren Finger- und Fußnägel ließen darauf schließen, daß sie seit drei bis vier Stunden tot war. Auch sie trug keine Unterwäsche, ansonsten wies nichts auf sexuellen Mißbrauch hin; keine sichtbaren Spermienspuren an Genitalien, Schamhaar oder Oberschenkeln; keine Blut-, Schmutz- oder Hautreste unter den Fingernägeln. Ihre Arme und Beine zeigten weder Druckstellen und Abschürfungen noch Bißwunden.
Die Polizisten sammelten ein, was sie an möglichen Hinweisen finden konnten: Zigarettenkippen, Knöpfe, Papierfetzen. Doch nachdem so viele Menschen den Fundort verwüstet hatten, versprach Yu sich wenig davon.
Immerhin entdeckte er eine helle Faser an der Sohle ihres linken Fußes. Vielleicht stammte sie von ihren Strümpfen, oder sie war hängengeblieben, als sie irgendwo barfuß lief. Vorsichtig zupfte er sie weg und verwahrte sie in einem Plastikbeutel.
Dann stand er auf. Kalter Wind zog in Böen über den Fluß. Die große Uhr im Turm des Zollgebäudes begann zu schlagen, die immergleiche Melodie, die dem Wandel der Zeiten widerstanden hatte und nun vor dem grauen Himmel ertönte. Sie wußte nichts vom unersetzlichen Verlust durch den Tod einer jungen Frau in den frühen Morgenstunden.
Er mußte zurück ins Präsidium und überließ den Fundort seinen Kollegen.
Auch das Shanghaier Polizeipräsidium schien im kalten Morgenwind zu erschauern. Selbst der pensionierte und wieder eingestellte Pförtner, Genosse Alter Liang, begrüßte Yu
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