Blut und rote Seide
lassen wollen, weshalb er bestraft wurde und seine Stellung und schließlich sein Leben verlor. Die Figur der Xiuxiu verkörperte diesen Widerspruch: Ein hübsches Mädchen, das Cui auf so kühne, für klassische chinesische Liebesgeschichten ungewöhnliche Weise liebte, ihn dann aber vorsätzlich und mit eigener Hand tötete. Anziehung und Abstoßung bildeten hier die zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Eine Erklärung für die Verschmelzung beider Seiten fand Chen in der gattungsspezifischen Klassifizierung. Die Geschichte zählte zur Kategorie yanfen beziehungsweise linggui . Yanfen waren Geschichten um schöne Frauen, während linggui von Frauen erzählten, die sich als Feen oder Dämonen entpuppten. Im Westen gab es dafür den Ausdruck der femme fatale .
In »Jadeschnitzer Cui und seine Geisterfrau« verkörperte Xiuxiu einen solchen Fluch. Chen markierte sich die Abschnitte gegen Ende der Geschichte.
In tiefer Niedergeschlagenheit kehrte Cui nach Hause zurück. Als er die Stube betrat, sah er seine Frau auf dem Bett sitzen. Da flehte Cui Ning: »Liebste, verschone mich!«
»Um dich zu retten«, entgegnete Xiuxiu, »ließ ich mich vom Fürsten zu Tode prügeln und im Garten verscharren. Aber Schuld an allem hat dieser Guo. Er hat zuviel geredet. Doch heute konnte ich mich an ihm rächen. Der Fürst hat ihm fünfzig Stockhiebe auf den Rücken geben lassen. Aber jetzt, da alle wissen, daß ich ein Geist bin, kann ich nicht länger hierbleiben.«
Mit diesen Worten sprang sie auf und umschlang Cui mit beiden Händen. Schreiend stürzte er zu Boden.
In dem Moment fiel auch im Café etwas zu Boden. Chen blickte auf. Ein Mädchen war von einem der Barhocker gerutscht, als sie den Mann hinter der Bar küssen wollte. Bei dem Versuch, die Balance zu halten, hatte sie das Bein ausgestreckt und dabei eine ihrer hochhackigen Sandalen verloren.
Hier war es längst nicht so ruhig, wie er gehofft hatte. Immer mehr Gäste strömten herein, die meisten jung, modisch und aufgekratzt. Eine junge Frau packte ihren Laptop aus und vertiefte sich in ein Computerspiel. Ihre Finger pickten und schwirrten über die Tasten wie lärmende Spatzen an einem Frühlingsmorgen. Andere Gäste plapperten in ihre Mobiltelefone, als wären sie allein auf der Welt.
Chen bestellte sich einen weiteren Kaffee.
Wie hatte Xiuxiu es über sich gebracht, Cui zu töten? Chen blätterte ein paar Seiten zurück zu der Stelle, wo Cui und Xiuxiu sich während des Feuers begegneten.
»Erinnert Ihr Euch an den Abend, als wir auf dem Turm zusammen den Mond betrachteten und der Fürst versprach, mich mit Euch zu vermählen?« sagte Xiuxiu zu Cui. »Ihr konntet dem Fürsten nicht genug dafür danken. Erinnert Ihr Euch daran?« Cui Ning legte die Hände ehrfürchtig zusammen und murmelte »Ja.«
»In jener Nacht haben Euch alle gratuliert und gesagt, was für ein wundervolles Paar wir doch sein würden. Wie könnt Ihr das vergessen haben?«
Abermals murmelte Cui: »Ja!«
Warum noch länger warten? Sollten wir nicht besser heute nacht schon Mann und Frau werden? Wie denkt Ihr darüber?«
»Ich wage es nicht.«
»Wenn Ihr ablehnt«, drohte sie, »werde ich laut schreien und Euch Unannehmlichkeiten bereiten. Wieso habt Ihr mich dann überhaupt in Euer Haus gebracht? Gleich morgen will ich im Palast alles erzählen.«
Chen begriff, wie Xiuxiu Cui »verführte«: berechnend zog sie ihn gezielt in die Sache hinein.
In der Geschichte blieb zwar noch manche Frage offen, doch Chen meinte, gewisse Ähnlichkeiten mit den anderen Texten feststellen zu können. Jetzt wäre er in der Lage, sein Projekt abzuschließen, auch wenn es nicht ganz so ehrgeizig werden würde, wie ihm das vorgeschwebt hatte.
Er leerte seine Kaffeetasse und klappte das Mobiltelefon auf. Das Display zeigte mehrere Nachrichten an, darunter eine von Weißer Wolke. Sie rief er als erstes zurück. Sie erstattete Bericht wie eine Polizistin, wenngleich ihre Computerrecherche kaum etwas zutage gefördert hatte. Dann jedoch wechselte sie in den Ton einer »Kleinen Sekretärin«, als sie vorschlug: »Gönnen Sie sich eine Pause, Chef. Besuchen Sie einen Nachtclub. Dort können Sie das Milieu der Mordopfer aus erster Hand kennenlernen und gleichzeitig ein wenig entspannen. Ich begleite Sie gern. Sie haben derzeit so viel um die Ohren, daß ich mir wirklich Sorgen mache. Denken Sie an Ihre Nerven.«
Sollte er das als Aufforderung verstehen? Sie war selbst K-Mädel gewesen und
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