Blut und rote Seide
bereits Zweifel. Er setzte sich oft selbst Termine für die Fertigstellung einer Krimi-Übersetzung oder eines Gedichts, um zusätzlichen Druck zu haben. Doch diesmal war es anders. Er stand bereits unter zu großem Druck. Nachdem seine Bemühungen im Dienste der Ermittlung wenig gebracht hatten und kein Durchbruch in Sicht war, konnte er ebensogut zuerst das Referat fertigstellen. Die besten Ideen für die Aufklärung eines Falles kamen ihm erfahrungsgemäß dann, wenn er ihn zeitweilig ruhen ließ. Vermutlich war auch hier das Unterbewußtsein am Werk.
Doch zu Hause würde er sich nicht konzentrieren können. Ständig klingelte das Telefon, und den Stecker zu ziehen wäre auch keine Lösung. Angesichts der drei Mordopfer hatte sich seine Mobilnummer offenbar herumgesprochen und war selbst bis in die Zeitungsredaktionen gelangt. Sogar in der Bibliothek wurde er erkannt und mit Fragen zu dem Fall gelöchert. Am vergangenen Abend war eine Journalistin der Wenhui Tageszeitung mit einer Portion gegrilltem Schweinefleisch und einer Flasche Shaoxing-Wein auf seiner Türschwelle erschienen, um bei einem guten Mahl den Fall mit ihm zu besprechen. Er hatte sich an eine der leidenschaftlichen Heldinnen aus seinen klassischen Liebesgeschichten erinnert gefühlt.
Er beschloß, das Starbucks-Café an der Sichuan Lu aufzusuchen.
Die Filialen von Starbucks schossen, wie die von McDonald’s und Kentucky Fried Chicken, überall in der Stadt wie Pilze aus dem Boden. Weil man dort ruhig und ungestört sitzen konnte, galten diese Cafés als Rückzugsorte für eine kultivierte Elite. Hier kannte ihn niemand, er würde sich den Vormittag über auf seine Arbeit konzentrieren können.
Er setzte sich an einen Tisch in der Ecke und packte seine Bücher aus. Die dritte Geschichte, die er untersuchen wollte – »Jadeschnitzer Cui und seine Geisterfrau« –, hatte ursprünglich zum Repertoire professioneller Geschichtenerzähler der Song-Zeit gehört und war auf Marktplätzen und in Teehäusern einem Publikum aus alten Leuten vorgetragen worden, die sich währenddessen lautstark unterhielten, Wassermelonenkeme knackten, Mah-Jongg spielten und nach Herzenslust ausspuckten.
Er trank seinen Kaffee und begann zu lesen. In der Erzählung war Xiuxiu, ein hübsches Mädchen aus Lin’an, als Stickerin an den Palast des Fürsten Xian’an verkauft worden, der Befehlshaber dreier Militärbezirke war. Im selben Palast war auch ein Jadeschnitzer namens Cui tätig, der sich die Gunst des Fürsten erworben hatte, weil er eine prächtige Jadestatuette der Göttin Guanyin für den Kaiser angefertigt hatte. Der Fürst versprach daraufhin, ihm Xiuxiu zur Frau zu geben. Eines Nachts mußten sie vor einer Feuersbrunst innerhalb des Anwesens fliehen, und Xiuxiu schlug Cui vor, sie sollten nicht aufeinander warten, sondern jetzt gleich Mann und Frau werden. Also begaben sie sich noch in selbiger Nacht nach Tanzhou, wo sie als Paar zusammenlebten. Nach etwa einem Jahr begegneten sie dort zufällig einem gewissen Guo, der Unteroffizier in der Leibwache des Fürsten war. Dieser meldete ihren Aufenthaltsort seinem Herrn, worauf der Fürst die beiden unverzüglich in seinen Palast zurückholen ließ. Cui wurde vor dem örtlichen Gerichtshof bestraft und allein nach Jiankang verbannt. Doch Xiuxiu holte ihn auf dem Weg dorthin ein und berichtete, sie sei freigelassen worden, nachdem sie ihre Strafe im Garten des Anwesens empfangen habe. Wie es der Zufall wollte, mußte die Jadefigur der Guanyin restauriert werden, und so begaben sich die beiden in die Hauptstadt, wo sie abermals auf Guo stießen. Der Fürst ließ Xiuxiu erneut einfangen, doch der Tragesessel, der sie heimbringen sollte, war bei der Ankunft leer. Guo erhielt wegen falscher Aussage eine Tracht Prügel. Man ließ auch Cui zurückbringen, der bei dieser Gelegenheit erfuhr, daß Xiuxiu im Palastgarten zu Tode geprügelt und verscharrt worden war. Es mußte also Xiuxius Geist gewesen sein, mit dem er seither zusammengelebt hatte. Als er nach Hause zurückkehrte, flehte er ihn um Gnade an, doch er tötete ihn, um im nächsten Leben wieder mit ihm vereint zu sein.
Wie bei den anderen Geschichten, so fielen Chen auch an diesem Text einige Ungereimtheiten auf. Bereits der Untertitel hatte einen negativen Unterton; er lautete: »Der Fluch im Leben und Sterben des Meisters Cui«. Es gab keinen Zweifel, daß mit diesem Fluch Xiuxiu gemeint war. Cui war verflucht, weil sie ihn aus Liebe nicht hatte gehen
Weitere Kostenlose Bücher