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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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Lockvogelaktion.
    Also braute er sich die zweite Kanne Kaffee, schluckte dazu eine Handvoll Ginseng-Pillen und rauchte eine Zigarette.
    Kurz darauf wurde ihm übel, er begann zu zittern und brach in kalten Schweiß aus.
    Plötzlich verspürte er das irrationale Bedürfnis, gegen die Wand zu treten, wie eine Eule zu schreien, Geschirr zu zerschlagen oder politische Verunglimpfungen zu brüllen.
    Schweißüberströmt preßte er sich die Faust auf den Mund, als gälte es, Zahnschmerzen zu stillen. Dann schloß er vorsichtshalber die Tür ab, nahm einige Schlaftabletten und warf sich aufs Bett. Als er erwachte, fühlte er sich wie ein Häufchen Elend. Ein Nervenzusammenbruch – durchfuhr es ihn, und er mußte an T. S. Eliots Zusammenbruch in der Schweiz denken.
    Was wäre, wenn ihn dieser irrationale Impuls erneut packte? Zum Glück war er zu Hause, doch man konnte nie wissen, wo es ihn das nächste Mal überkam. Nicht auszudenken, wenn ihm so etwas in der Öffentlichkeit passierte.
    Er durchsuchte sein Medizinschränkchen, fand aber nichts, was er noch hätte einnehmen können. Er fühlte sich hohl wie der Mann in Eliots Gedicht.
    Als gegen neun Uhr Weiße Wolke anrief, um wie gewöhnlich Bericht über ihre Computerrecherche zu erstatten, brachte er kaum ein Wort heraus.
    »Bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte sie mit echter Anteilnahme in der Stimme. »Bin gleich da.«
    Eine halbe Stunde später erschien sie zu Chens Überraschung in Begleitung von Gu, ihrem früheren Arbeitgeber, dem Direktor der New World Corporation. Gu hatte eine Tüte mit chinesischer Kräutermedizin dabei.
    Seit sie sich im Zusammenhang mit einem anderen Mordfall kennengelernt hatten, fühlte sich der erfindungsreiche Unternehmer als Freund und Förderer des Oberinspektors. Ein Mann wie Chen war ein wertvoller Geschäftskontakt, doch auch er hatte Chen schon mehrfach geholfen.
    »Was Sie brauchen, ist Urlaub, Oberinspektor Chen«, erklärte Gu. »Urlaub im Ting Berg- und Seeresort, und zwar sofort. Ich habe bereits alles in die Wege geleitet.«
    Gu hatte in mehrere Bauprojekte investiert, darunter auch dieses bekannte Resort, das an der Grenze zwischen Shanghai und der Provinz Zhejiang lag.
    Der Vorschlag klang verlockend. Während der vergangenen Tage hatte Chen einfach zuviel um die Ohren gehabt: die Wohnungsbauaffäre, die qipao -Morde, von den politischen Verwicklungen innerhalb und außerhalb des Präsidiums ganz zu schweigen, und obendrein auch noch seine literarischen Studien zur Dekonstruktion klassischer Liebesgeschichten. Er war in der Tat urlaubsreif.
    »Vielen Dank, Herr Gu«, sagte er. »Ich stehe in Ihrer Schuld.«
    »Wozu hat man denn Freunde?« entgegnete Gu. »Ich werde Ihnen einen Wagen schicken.«
    »Ich könnte mich dort um Ihre Gesundheit kümmern«, sagte Weiße Wolke mit einem vielversprechenden Lächeln. »Sie müssen unbedingt ausspannen.«
    »Ich danke Ihnen für alles, Weiße Wolke. Aber ich glaube, ich sollte ein paar Tage ganz für mich sein. Falls ich etwas brauche, rufe ich Sie an.«
    »Halten Sie sich bereit, Weiße Wolke«, sagte Gu. »Und lassen Sie mich wissen, wenn er etwas benötigt.«
    Weiße Wolke hatte früher in Gus Karaoke-Club gearbeitet, später war sie eine Zeitlang Chens »Kleine Sekretärin« gewesen, finanziert von Gu. Vermutlich steckte auch diesmal nichts weiter hinter Gus Angebot.
    Gu und Weiße Wolke gingen, nachdem alles organisiert war. Chen begann zu packen. Je konsequenter er all seine Sorgen hinter sich ließ, desto rascher würde er sich erholen. Dennoch konnte er dort vielleicht sein Referat abschließen, sobald er sich ein wenig besser fühlte. Er packte einige der konfuzianischen Klassiker ein, von denen er sich eine abschließende These für seine Interpretation versprach. Dies war vermutlich seine letzte Chance für eine Selbstverwirklichung auf anderem Gebiet. In den Oberinspektor konnte er sich immer wieder zurückverwandeln.
    Er steckte eine Packung Schlaftabletten in seine Aktentasche und verbarg sie unter dem Foto von Weißer Wolke im roten qipao . Es wäre nur sachdienlich, wenn er gelegentlich ihr Bild betrachten könnte. Und das Wissen um die Beruhigungsmittel gab ihm Sicherheit, stets verfügbar hinter ihrem Lächeln.
    Das Mobiltelefon würde er wohl besser zu Hause lassen, sonst konnte er die Erholung gleich vergessen. Wenigstens für ein paar Tage sollte es ihm vergönnt sein, den Oberinspektor abzuschütteln. Als Polizeibeamter konnte er momentan ohnehin nichts tun, sein

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