Blut und rote Seide
Serienmörder zu. Drei Opfer innerhalb von drei Wochen, drei verschiedene Fundorte. Glauben Sie, ein Mann dieses Alters könnte so etwas schaffen? Ich habe mich vorhin ein paar Minuten bei dem Gebüsch da unten umgesehen. Nicht einem der vorbeifahrenden Fahrzeuge wäre es in dieser Zeit gelungen, kurz anzuhalten oder auch nur zu verlangsamen, ohne ein Hupkonzert auszulösen. Hätte der Täter die Leiche aus dem fahrenden Auto geworfen, wäre das sicher von einem nachfolgenden Fahrer bemerkt worden, selbst bei Nacht. Vermutlich mußte er mehrmals vorbeifahren, bis sich ihm endlich Gelegenheit dazu bot.«
»Stimmt. Und man muß schnell reagieren und außerdem kräftig sein.«
»Der Mörder dürfte also in den besten Jahren sein. Das hieße aber, daß er – vorausgesetzt es besteht eine Verbindung zu der qipao -Trägerin –, als das Kleid angefertigt wurde, ein kleiner Junge gewesen sein muß.«
»Das ergibt aber keinen Sinn.«
»Darin besteht der nächste Widerspruch. Aber die Psychologie kennt ja auch so etwas wie den Ödipus-Komplex.«
»Ödipus-Komplex?« wiederholte Yu verständnislos.
»Das unterbewußte sexuelle Verlangen eines Sohnes nach seiner Mutter.«
»Und das soll uns helfen, einen Jungen zu finden, der inzwischen ein gestandener Mann ist und fähig, drei Morde in drei Wochen zu begehen?« fragte Yu mit unverhohlenem Spott in der Stimme. »Also da komm ich jetzt wirklich nicht mehr mit.«
Yu hatte noch nie vom sogenannten Ödipus-Komplex gehört. Der klang reichlich absurd, aber was unorthodoxe Ermittlungsmethoden betraf, so war Yu von seinem Chef einiges gewöhnt.
»Auch ich halte das eher für unwahrscheinlich«, erwiderte Chen völlig ungerührt. »Es könnte sich allerdings um jemanden handeln, der in seiner Kindheit ein traumatisches Erlebnis hatte, vermutlich während der Kulturrevolution. Und das hinterließ in ihm widerstreitende Gefühle gegenüber der Frau im roten qipao .«
»Eine extravagante Theorie«, rief Yu. »Und nachdem er zwanzig Jahre ruhig abgewartet hat, treibt ihn die Leidenschaft für seine Mutter jetzt zu dieser wahnwitzigen Mordserie?«
»Diese Theorie ist nicht auf meinem Mist gewachsen«, entgegnete Chen ruhig. »Immerhin erklärt sie einige der Widersprüche.«
Yu bedauerte seinen spöttischen Kommentar sofort. Chen hatte sich bei seinen literarischen Studien auf seine Weise Gedanken über den Fall gemacht. Trotzdem, dieser Ansatz war einfach zu akademisch für Yus Geschmack.
»Übrigens wird heftig darüber spekuliert, warum Sie ausgerechnet während dieser entscheidenden Ermittlungen Urlaub nehmen«, sagte Yu, das Thema wechselnd.
»Sollen sie reden. Sagen Sie, daß ich mit meinem Referat beschäftigt bin.«
»Selbst der Alte Jäger meint, Sie sollten dieses Referat für eine Weile beiseite legen.«
»Das habe ich ja auch vor, aber es braucht keiner zu wissen.«
Ein junges Paar kam vorbei. Nachdem sich die beiden vergeblich nach einem Sitzplatz umgesehen hatten, ließen sie sich auf der Bank neben den Polizisten nieder. Es gab mittlerweile zwar immer mehr Orte, wo junge Leute sich aufhalten konnten, aber der Bund stand nach wie vor an der Spitze der Beliebtheit. Auf dem Fluß zogen farbenfrohe Schiffe vor den eindrucksvollen neokolonialen Fassaden der Uferpromenade vorbei. Und die Sitzplätze vor diesem immerwährenden Schauspiel waren kostenlos. Kein Wunder, daß jeder verfügbare Platz am Bund von Liebespaaren besetzt war. Chen und Yu konnten ihr Gespräch nun allerdings nicht mehr fortsetzen.
»Dann werden Sie Ihren Ansatz also weiterverfolgen?« fragte Yu und stand auf.
»Das ist reines Bücherwissen«, sagte Chen. »Übrigens könnte Sie recht haben mit Ihrer Vermutung, daß der Mord an Jasmine eine Art Auslöser war. Das würde aber auch bedeuten, daß wir weiter in die Geschichte zurückgehen müssen.«
Wie weit denn noch, dachte Yu. Bei seinem Chef mußte man immer auf Überraschungen gefaßt sein.
15
AM DIENSTAG MORGEN erwachte Chen so erschöpft, als hätte er überhaupt nicht geschlafen. Ein nagender Kopfschmerz kündigte sich an. Er massierte sich die Schläfen.
Das ganze Wochenende hatte er über den qipao -Morden gebrütet und dabei verschiedene Ansätze verfolgt.
Durch einen Anruf bei einer Freundin in den Vereinigten Staaten, die Zugang zu den entsprechenden Datenbanken hatte, ließ er sich bestätigen, daß Wengs Angaben im großen und ganzen korrekt waren. Er arbeitete als Einkäufer für eine amerikanische Firma, und seine
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