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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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ohnehin nicht geglaubt, daß er Polizist war, zumal einer, der sich mit Literatur beschäftigte. Er hatte nicht vor, seine Identität preiszugeben.
    Doch wie stand es um die ihre? Eine attraktive Frau allein in einem exklusiven Ferienresort. Er verbot es sich, automatisch wie ein Ermittler zu denken. Sie war eine namenlose Touristin im Urlaub, und er mußte nicht ständig im Leben anderer herumschnüffeln.
    »Darf ich fragen, was Sie da lesen?«
    »Einen konfuzianischen Klassiker.«
    »Wie interessant«, sagte sie mit einem Seitenblick auf die jungen Mädchen im Pool. »Konfuzius am Beckenrand.«
    Die leise Ironie ihres Kommentars war ihm nicht entgangen. In einem hatte Konfuzius zweifellos recht: Niemand ist so lernbegierig wie eine Schönheit .
    Auch sie hatte sich jetzt ihrem Buch zugewandt, das lackschwarze Haar glänzte in der Sonne, in ihren Augen brandeten »Herbstwellen« – auch das ein Ausdruck, der aus seinen Liebesgeschichten stammte. Er war sich ihrer Nähe deutlich bewußt und registrierte ihre unrasierte Achselhöhle, als sie einen Arm hinter den Kopf legte. An ihrem schmalen Fußgelenk trug sie ein Band aus roter Seidenkordel. Das ließ ihn an eine Gedichtzeile über einen Mann denken, dessen Gedanken ebenfalls abschweiften angesichts nackter, weißer Frauenbeine; allerdings im Sonnenschein, der einen Flaum dunkler Haare darauf sichtbar werden ließ.
    Er verbat sich solche Abschweifungen und bekam plötzlich Zweifel an der Notwendigkeit dieses Urlaubs. Die erschreckende Erfahrung, die er an jenem Morgen gemacht hatte, war vermutlich nur auf übertriebenen Kaffeegenuß zurückzuführen. Vielleicht hatte er zu panisch reagiert. Er fühlte sich inzwischen wieder völlig normal. Warum also hatte er sich hierher zurückgezogen? Ein Serienmörder hielt Shanghai in Atem, und er lag in einem Hunderte von Kilometer entfernten Ferienresort am Pool, las und gab sich amourösen Gedichtzeilen hin.
    Zumindest mit seinem Referat wollte erweiterkommen. Er schlug sein Heft auf und begann, sich Notizen für eine abschließende These zu machen.
    Die in der traditionellen chinesischen Gesellschaft verbreitete Institution der arrangierten Heirat hatte die romantische Liebe in Mißkredit gebracht. Doch woher kamen dann all diese Liebesgeschichten? Er hatte zwar nur drei davon analysiert, aber es gab unendlich viele. Im Grunde hätte die Veröffentlichung und Verbreitung solcher Geschichten, die sich gegen die soziale Norm der arrangierten Heirat wandten, gar nicht möglich sein dürfen …
    Sein Gedankengang wurde von einem Kellner unterbrochen, der in Chen den »Ehrengast« vom Bankett neulich erkannt hatte und mit einer Flasche Wein in einem Eiskübel nahte.
    Vielleicht war das hier so üblich, dachte Chen, und sagte: »Tut mir leid, ich habe mein Gutscheinheft nicht dabei.«
    »Keine Sorge, mein Herr«, erwiderte der Kellner und stellte den Kübel auf ein Beistelltischchen neben Chens Liegestuhl. »Eine Einladung des Hauses.«
    Chen machte ihm Zeichen, zunächst der Frau im Liegestuhl nebenan einzuschenken.
    »Kein Zweifel, Sie sind jemand Besonderes.« Sie probierte und nickte ihre Zustimmung, bevor sie das Glas auf dem Tischchen abstellte.
    »Ein einsamer Fremder fern der Heimat« , zitierte er eine Zeile aus einem Tang-Gedicht.
    »Meine bessere Hälfte befindet sich auf Geschäftsreise«, sagte sie und lehnte sich über den Tisch zu ihm herüber, was ihr Dekolleté zur Geltung brachte. »Deshalb wurde ich hier allein zurückgelassen. Die Gezeiten halten Wort/ und kommen unablässig. / Hätt’ ich’s geahnt, / so hätt’ ich einen jungen Gezeitenritter mir zum Mann erwählt. «
    Auch diese Zeile stammte aus einem Tang-Gedicht von Li Yi, das folgendermaßen anfing: Wie oft hat er mich versetzt, / dieser geschäftige Kaufmann aus Qutang, / seit ich ihm das Jawort gab! Eine erstaunlich kluge und selbstironische Erwiderung, die durchblicken ließ, daß sie einen sehr beschäftigten und zugleich lieblosen Mann hatte und sich einsam fühlte.
    »Aber ein junger Gezeitenritter würde es sich nicht leisten können, Sie in einem so luxuriösen Resort unterzubringen.«
    »Ebenso wahr wie betrüblich. Ich heiße übrigens Sansan und unterrichte Gender Studies an der Pädagogischen Hochschule in Shanghai.«
    »Mein Name ist Chen Cao. Ich bin zur Zeit als Gasthörer an einer Universität in Shanghai eingeschrieben.«
    »Da ich gern reise, sollte ich mich glücklich schätzen, einen Mann zu haben, der mir solche Ferien

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