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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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allgegenwärtig. Befanden sich die Menschen im Einklang mit dem alten Moralkodex, wie dies angeblich in einem fernen goldenen Zeitalter der Fall gewesen war, so herrschte Ordnung. Es gab Regeln für alle Lebensbereiche, nur die Liebe war, soweit Chen wußte, nicht reglementiert.
    Auch bei Durchsicht der mitgebrachten Bücher hatte er am Morgen nichts dazu finden können. Die konfuzianischen Denker mieden das Thema, als existierte so etwas wie romantische Leidenschaft überhaupt nicht.
    Nun weitete Chen seine Suche auch auf die Ehe aus, hunli , was wörtlich Hochzeitsritual bedeutet. Wie zu erwarten, fand er mehrere Passagen über die Hochzeitsriten, doch in keiner war von der Leidenschaft die Rede, die junge Menschen verband. Im Gegenteil, Brautleute sollten sich vor der Eheschließung möglichst nicht sehen, geschweige denn Gefühle füreinander entwickeln. Die Anbahnung der Ehe blieb ausschließlich den Eltern überlassen.
    Im Buch der Riten , einem der kanonischen Bücher des Konfuzianismus, gab es folgende eindeutige Aussage über die Ehe:
     
    [Der Ritus der] Heirat soll eine glückliche Verbindung zwischen zwei [Familien mit unterschiedlichen] Namen schaffen. Ihr rückwärts gewandter Aspekt dient dazu, den Ahnendienst im Tempel zu gewährleisten, ihr vorwärts gewandter Aspekt dient der Fortführung der Familienlinie. Daher mißt der Edle ihm große Bedeutung bei (…).
    Der Heiratsritus besteht aus sechs aufeinanderfolgenden rituellen Schritten, als da sind: der Besuch der Heiratsvermittlerin, Erkundigungen bezüglich des Namens und Geburtsdatums des Mädchens, die Erstellung eines Horoskops für das Paar, Verlobungsgeschenke, Festsetzung des Hochzeitstags und die Begrüßung der Braut durch den Bräutigam am Tag der Hochzeit.
     
    Während dieser Phase, so las Chen, sollten die beiden jungen Leute sich nicht sehen, und zwar bis zum Tag ihrer Hochzeit. Die Ehe, die im Namen der Eltern vollzogen wurde, diente allein dem Fortbestand der Familie und hatte mit romantischer Liebe nichts zu tun.
    In seiner Ausgabe des Buches Menzius strich Chen sich eine Passage an, in der zwei junge Menschen verdammt wurden, weil sie sich ineinander verliebt und die Heiratspläne ihrer Eltern durchkreuzt hatten.
     
    Wenn ein Sohn geboren wird, so wünscht man sich für ihn, daß er eine Frau haben wird; wenn eine Tochter geboren wird, so wünscht man sich für sie, daß sie einen Mann haben wird. Ein solcher Elternwunsch ist allen Menschen eigen. Wenn aber die jungen Leute, ohne auf die Weisungen ihrer Eltern und die Vorkehrungen der Heiratsvermittlerin zu hören, Gucklöcher bohren, um einen Blick voneinander zu erhaschen, und über Mauern klettern, um beieinanderzusein, dann werden ihre Eltern und alle anderen Leute sie verachten.
     
    Was der Philosoph Menzius hier als Gucklöcherbohren und Mauerklettern bezeichnete, war, wie Chen wußte, zur Standardmetapher für die heimlichen Rendezvous Jungverliebter geworden.
    Er klappte das Buch zu und versuchte sich zu vergegenwärtigen, was er eben gelesen hatte. Für eine familienorientierte Sozialstruktur war die arrangierte Heirat von zentralem Interesse, denn bei der romantischen Liebe standen die Eltern nicht länger im Mittelpunkt von Zuneigung, Loyalität und Autorität.
    »Entschuldigen Sie, darf ich mich hierhersetzen?«
    »Oh.« Chen fuhr auf und sah eine junge Frau, die einen Liegestuhl neben den seinen zog. »Natürlich, bitte.«
    Sie streckte sich neben ihm aus. Eine attraktive Frau Anfang Dreißig mit geradem Mund und klar strukturiertem Gesicht, das von sanft gewelltem Haar umrahmt wurde. Über ihren Badeanzug hatte sie einen weißen Sari oder Umhang geschlungen, eine Art weißer Kaftan, dessen dünner Stoff ihre langen Beine umspielte. Auch sie hielt ein Buch in der Hand.
    »Es ist angenehm, hier zu lesen.« Sie überkreuzte die Beine und zündete sich eine Zigarette an.
    Er war zwar nicht zum Plaudern aufgelegt, hatte aber nichts dagegen, daß eine hübsche Frau sich neben ihn legte und ebenfalls las. Er lächelte ihr stumm zu.
    »Ich habe Sie vor ein paar Tagen im Restaurant gesehen«, sagte sie. »Das war ja ein eindrucksvolles Bankett.«
    »Tut mir leid, ich erinnere mich nicht, Sie bemerkt zu haben.«
    »Ich saß draußen im Speisesaal und habe durch die Scheibe zugesehen. Alle an Ihrem Tisch haben Ihnen beflissen zugeprostet. Sie müssen ein erfolgreicher Mann sein.«
    »Aber nein, wirklich nicht.«
    »Dann zumindest reich.«
    Wieder lächelte er. Sie hätte ihm

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