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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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Mensch nicht länger Herr seiner Entscheidungen. Bei Freud wurde das Handeln vom Unterbewußtsein oder dem kollektiven Unbewußten bestimmt. Es wäre ein leichtes, den Mörder für wahnsinnig zu erklären, wesentlich schwieriger aber wäre es, die äußeren Zwänge herauszuarbeiten, die ihn zu seiner Tat getrieben hatten. Und zu rekonstruieren, wie sie aufgebaut wurden …
    »Nehmen Sie zum Beispiel den Roman Pflaumenblüten in Goldener Vase «, fuhr Sansan fort, die sein Schweigen als konzentriertes Zuhören deutete. »Ximen Qing muß sterben, weil er zu viel Sex mit Frauen hat. Es endet damit, daß er seinen Samen unaufhörlich in Pan Jinlian verströmt, diese schamlose Hure, die ihn buchstäblich aussaugt.«
    »Ja, ich erinnere mich.«
    »In einem anderen Roman, Gebetsmatte aus Fleisch , muß sich der Held am Ende selbst entmannen, weil er der sexuellen Anziehung von Frauen nicht widerstehen kann.«
    Offenbar hatte ihre wissenschaftliche Arbeit etwas mit der ungerechten Behandlung von Frauen zu tun. Diese Unterhaltung kam ihm für sein Referat sehr gelegen, sie schien seine These indirekt zu bestätigen.
    »Ja, mir fallen dazu mehrere Ausdrücke ein, die eine ähnliche Sichtweise wiedergeben«, sagte er. » Hongyan huoshui zum Beispiel – vernichtende Flut der Schönheit, oder meiren shexie , die Schöne als Schlange und Spinne.«
    Er fühlte sich ermutigt. Diese Beobachtungen könnten seine bisherigen Untersuchungsergebnisse untermauern. Ein vielversprechender Beitrag, wie Professor Bian sich ausgedrückt hatte.
    »Diese Formulierungen sprechen für sich«, bestätigte sie und wechselte dann das Thema. »Sie haben Wang Wei zitiert. Den einsamen Fremden. Dann sind Sie also hier, um einen literarischen Aufsatz zu schreiben?«
    »Der Aufsatz ist nur einer der Gründe«, sagte er und fügte hinzu: »Ich fühlte mich ausgebrannt und dachte, ein bißchen Erholung täte mir gut.«
    Damit wandte sich das Gespräch anderen Themen zu.
    »In einer Zeit, wo Männer ausschließlich an ihren Einkünften gemessen werden, wie lange kann man sich da hinter Tang-Gedichten verstecken? Kaum länger als einen romantischen Morgen. Deshalb habe ich meinen geldscheffelnden Gatten ja auch schätzengelernt. Aber seien Sie nicht zu hart mit sich. Verdrängung ist ungesund.«
    Einen solchen Kommentar hatte er nicht erwartet, und sie war ihm plötzlich nicht mehr ganz geheuer. Nicht wegen ihres Zynismus’ oder weil sie Feministin war. Sein Blick fiel auf die rote Seidenschnur mit dem Silberglöckchen an ihrem Fußgelenk.
    Mit einem tiefen Atemzug vertrieb er die verwirrenden Gedanken. Er war kein Wissenschaftler, und es würde wohl auch keiner mehr aus ihm werden. Ebensowenig war er, was sie vermutlich annahm, ein Neureicher, der in einem Luxushotel seine Abenteuer suchte.
    Er war ein Polizist inkognito, der sich von jemandem einen Urlaub spendieren ließ.
    Das Schwimmbad leerte sich allmählich. Vielleicht würde es bald schließen.
    »Heute abend gibt es einen Ball im Hotel. Werden Sie hingehen?« Ihre Stimme war so weich wie das nachmittägliche Sonnenlicht.
    »Sehr gern«, erwiderte er, »aber ich muß noch ein paar Anrufe erledigen.«
    »Ich glaube, wir wohnen im selben Gebäude. Meine Zimmernummer ist 122. Danke für den Wein«, sagte sie. »Und bis bald.«
    »Auf Wiedersehen.«
    Er sah ihr nach, wie sie mit schwingendem Haar davonging. Bevor sie um die Ecke bog, winkte sie ihm noch einmal zu.
    »Wiedersehen«, sagte er erneut und dann leise vor sich hin: »Viel Spaß heute abend.«

20
    ES WAR DER schwerste Schlag, den Yu in seiner Laufbahn als Polizist hatte hinnehmen müssen.
    Nach einer schlaflosen Nacht, die er zunächst auf dem Friedhof, dann im Präsidium verbracht hatte, rieb er sich die blutunterlaufenen Augen und begab sich erneut ins Joy Gate, wo seine junge Kollegin entführt und später ermordet worden war, während er draußen vor dem Eingang gesessen hatte und sie hätte schützen sollen. Er konnte an nichts anderes mehr denken.
    Im Joy Gate war man noch immer mit der gründlichen Durchsuchung aller Zimmer beschäftigt in der Hoffnung, vielleicht doch ein bis dahin unbemerktes Beweisstück zu finden. Da Yu seinen Kollegen dabei wenig helfen konnte, ging er an die Rezeption und bat um eine Liste der Stammkunden. Um einen solchen Plan auszuhecken, mußte der Täter die Räumlichkeiten genau gekannt haben. Auf Yus Drängen hin druckte ihm der Empfangschef schließlich eine Namensliste aus.
    »Das hat nichts zu bedeuten«,

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