Blut und rote Seide
spendieren kann. Haben Sie vor, eine akademische Laufbahn einzuschlagen?«
»Das weiß ich noch nicht«, erwiderte er. »Aber Sie haben eben Zeilen zitiert, die ein interessantes Licht auf den Status der Frau in der Tang-Zeit werfen. Damals dürfte das lyrische Ich wohl kaum die Wahl gehabt haben. Meinen Sie, ihr Problem rührte von einer arrangierten Heirat her?«
»Nein, das wäre eine zu simple Erklärung. Die Heirat meiner Eltern war ebenfalls arrangiert, und sie war, soweit ich weiß, ausgesprochen glücklich«, sagte sie und nahm einen Schluck Wein. »Denken Sie nur an die hohe Scheidungsrate heutzutage, wo sich die jungen Leuten ihre Liebe bei Bergen und Seen schwören.«
»Und das von einer Dozentin für Gender Studies!« entgegnete er. »In den konfuzianischen Klassikern existiert allein die arrangierte Heirat. Ich frage mich, wie es die Chinesen ausgehalten haben, zweitausend Jahre lang nicht über romantische Liebe zu reden.«
»Nun, die Welt ist so, wie wir sie interpretieren. Wenn man überzeugt ist, daß die Eltern einen verstehen und nur das Beste wollen, dann richten sich die jungen Menschen auch danach. Genau wie heute: Solange die Überzeugung herrscht, daß die materielle Basis den Überbau bestimmt und romantische Liebe allenfalls schmückendes Beiwerk ist, muß man sich nicht wundern, wenn in Heiratsanzeigen nur Millionäre gesucht werden.«
»Ein Sozialismus mit wahrhaft chinesischer Prägung.«
»Das können Sie laut sagen. Meinen Sie denn, daß es romantische Liebe immer schon gegeben hat, zu allen Zeiten?« fragte sie mit zynischem Unterton. »Glaubt man Denis de Rougemonts Liebe und das Abendland , so ist sie eine Erfindung der französischen Troubadoure.«
Es verwirrte ihn, hier zu sitzen und den Duft ihres Haars einzuatmen. Während der letzten Jahre war er mit immer neuen Fällen beschäftigt gewesen und kaum zum Lesen gekommen. Sie dagegen hatte, wie viele andere, Bücher gelesen, die er nicht einmal dem Namen nach kannte. Sieben Jahre droben in den Bergen, tausend Jahre drunten in der Welt . Vielleicht war es für ihn doch schon zu spät, von einer neuen Karriere zu träumen.
»Dann lesen Sie die konfuzianischen Klassiker also für ein Projekt über arrangierte Heirat?« erkundigte sie sich.
»Ich beschäftige mich mit einigen klassischen Liebesgeschichten, die eines gemeinsam haben. In jedem dieser Texte wird die Heldin auf irgendeine Weise dämonisiert, was unweigerlich zu einer Dekonstruktion des Liebesthemas führt.« Dann fügte er noch hinzu: »Sie kennen sich auf diesem Gebiet aus. Können Sie mir vielleicht weiterhelfen?«
»Ihre Begriffswahl gefällt mir: Dämonisierung von Weiblichkeit und Dekonstruktion der Liebe«, sagte sie. »Vor langer Zeit hat sich Lu Xun einmal zu diesem Thema geäußert. Chinesen suchen die Schuld immer bei der Frau, behauptete er. Die Shang-Dynastie stürzte wegen der kaiserlichen Konkubine Da; König Fucha verlor sich selbst und sein Reich an die schöne Xishi; Minister Dong Zhu erlag den Reizen der Diaochan. Man könnte die Liste beliebig verlängern. Noch heute geben wir Madam Mao die Schuld an der Kulturrevolution, wo doch jedem klar sein muß, daß sie ohne Mao eine zweitklassige Schauspielerin geblieben wäre.«
»Aber das ist nicht nur in China so«, erwiderte Chen. »Im Westen gibt es ein vergleichbares Konzept – die femme fatale . Und dann sind da noch die Vampirgeschichten.«
»Guter Punkt. Aber ist Ihnen der Unterschied nicht aufgefallen? Es gibt männliche und weibliche Vampire. Könnten Sie sich so etwas in China vorstellen? Außerdem entspricht die femme fatale nicht dem gängigen Frauenbild im Westen, und sie beherrscht auch nicht den allgemeinen Diskurs.«
»Stimmt. Die arrangierte Heirat war dagegen integraler Bestandteil des Konfuzianismus. Glauben Sie, die fraglichen Texte könnten unter dem Einfluß der herrschenden Ideologie manipuliert worden sein?«
»Und diese liebreizenden Frauen werden unweigerlich vernichtet, auf die eine oder andere Weise. Unausweichlich.«
»Unausweichlich …«, wiederholte er, in Gedanken längst wieder bei den Ermittlungen.
Vielleicht ähnelte der Autor in dieser Hinsicht einem Serienmörder, der sich selbst nicht unter Kontrolle hatte. Die postmoderne Kritik ging davon aus, daß der Mensch vom Diskurs bestimmt wurde und nicht umgekehrt. Hatte der Diskurs erst einmal die Kontrolle übernommen, oder, wie es das Chinesische formulierte, wenn der Dämon im Herzen Einzug hielt, so war der
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