Blut und rote Seide
war er, daß die Anzeige in der Zeitung nicht zufällig dort plaziert worden war. Es handelte sich um einen gezielten Gegenschlag, der auf Insider-Informationen beruhte.
Deshalb wollte Chen das Präsidium über seine Pläne im unklaren lassen. Die Leute zerrissen sich ohnehin das Maul über den Oberinspektor, der sich vermutlich deshalb in seine literarischen Studien vergrub, weil er diesem Serienmörder nicht gewachsen war. Sollten sie nur reden. Er würde sich weiterhin bedeckt halten.
»Tut mir leid, aber ich habe es mir anders überlegt«, informierte Chen den Fahrer. »Bringen Sie mich bitte zum Joy Gate.«
»Da gab’s letzte Woche eine Polizeirazzia.«
Vielleicht sollte das eine wohlgemeinte Warnung sein. In seinem Trenchcoat, mit Reisetasche und Aktenmappe, wirkte Chen wie ein Tourist, der die Attraktionen der Stadt abklapperte.
»Zum Joy Gate.«
Er würde tun, was in seinen Kräften stand, denn er fühlte sich mehr als jeder andere im Präsidium für Hongs Tod verantwortlich. Wäre er nicht im Urlaub gewesen, dann hätte er die Ermittlungen geleitet und sie von diesem Einsatz im Joy Gate abgehalten; zumindest hätte er zusammen mit den anderen vor der Tür Wache gestanden.
Er nahm sich die Ausgabe des Östlichen Morgen vor, die er auf dem Busbahnhof gekauft hatte. Der Artikel enthielt ein Foto der Leiche, wie sie im zerrissenen roten qipao ausgestreckt vor einem umgekippten Grabstein lag. Darunter stand der Zweizeiler:
Ihre Erscheinung im roten Kleid, / Blütenblätter auf regengeschwärztem Ast.
Das las sich wie ein imagistisches Gedicht, aber angesichts immer neuer unschuldiger Opfer war für Poesie kein Platz.
Endlich hatten sie den Stau hinter sich gelassen, und der Wagen näherte sich der restaurierten Art-déco-Fassade des Joy Gate.
Für reguläre Kunden war es noch zu früh. Lediglich ein paar Touristen fotografierten einander vor dem Eingang, vermutlich Beamte in Zivil. Chen betrat mit gesenktem Kopf das Etablissement. Der ältere Mann an der Rezeption beachtete ihn nicht weiter.
Die Kollegen hatten das Gebäude mit Sicherheit gründlich durchsucht. Dennoch wollte er sich selbst einen Eindruck verschaffen, vielleicht konnte er so eine Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten herstellen.
Während er die Marmortreppe hinaufstieg, betrachtete er die Filmsternchen aus den Dreißigern, die auf Plakaten die Wände zierten. Vermutlich hatten sie alle schon hier getanzt und ihre Anekdoten oder Fotos hinterlassen, deren Echo durch die Zeiten widerhallte.
Im ersten Stock meinte er, im Foyer ein bekanntes Gesicht zu entdecken, er bog also rasch ab und verbarg sich in einem dunklen Alkoven mit kleinem Balkon. Dort wartete er einige Minuten und blickte in den Ballsaal hinunter, wo Hong wie eine leuchtende Wolke umhergeschwebt war. Bei dieser Vorstellung murmelte er unwillkürlich ihren Namen.
Arbeiter stellten Tische und Stühle für den Abend auf. The show must go on . Er wandte sich zum Gehen.
Als er das Joy Gate verließ, sah er ganz in der Nähe einen großartigen buddhistischen Tempel aufragen, dessen glasierte Ziegel und geschwungene Giebel in der Sonne funkelten. Es war das Jing’an-Kloster, angeblich vor mehreren Jahrhunderten erbaut und erst kürzlich renoviert worden. Als Kind hatte er mit seinen Eltern hier den Ahnendienst verrichtet. Sie hatten einen der kleinen, separaten Räume und die dazugehörigen Mönche gemietet, zu deren Rezitationen sie den Toten eine Vielzahl von Speisen opferten.
Spontan kaufte er ein Billett und betrat den Tempel, den er seit Jahren nicht mehr besucht hatte.
Der erste Hof war neu gepflastert, hatte sich ansonsten aber kaum verändert. Er spazierte umher wie ein Pilger und versuchte Ordnung in die Erinnerungsfragmente seiner Kindheit zu bringen: Der kleine Gebetsraum mit den glänzenden Sakralgegenständen, Mönche in Kutten mit weiten Ärmeln, vegetarische Gerichte, die so täuschend Fleisch und Fisch imitierten, seine Angst vor den Geistern, die er in den langen Korridoren vermutete, Rezitationen, die dem Surren von Moskitos an einem Sommerabend glichen.
Wieder fühlte er einen leichten Schwindel, so als müßte er sich durch endlos lange, dunkle Gänge tasten, an deren Ende ihn Unbekanntes erwartete. Die vertrauten kleinen Gebetsräume befanden sich noch immer im Westflügel des Tempels. Dort knieten und verneigten sich Menschen vor ihren traditionellen Opfergaben, die zwischen Kerzen auf dem Altar standen. Eine Gruppe Mönche zog, fischförmige
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