Blut und rote Seide
ausgelöst wurde. Einige Monate zuvor hatten Anwohner eine Frau im roten qipao zwischen den Gräbern umhergehen sehen. Seine Nachforschungen ergaben, daß auf dem Friedhof eine Filmschauspielerin in einem solchen Kleid begraben worden war, doch zog er es vor, ihre Identität geheimzuhalten. Ihr sei im Leben schon genug Unrecht geschehen und weiteres nach ihrem Tod, als Rotgardisten die sterblichen Überreste aus dem Sarg kippten und das rote Kleid in Stücke rissen. Das sei auch die Erklärung dafür, daß alle Leichen dieser Mordserie solche Kleider trugen.
Der Artikel war lang, und Yu hatte nicht die Geduld, ihn bis zu Ende zu lesen. Abergläubische Spekulationen dieser Art machten die Sache für die Polizei und die Stadtregierung nur noch komplizierter. Solange der Fall ungelöst bliebe, würden solche Schauergeschichten weiter ins Kraut schießen.
Irgendwie war es ja auch verständlich. Selbst für ihn, den Polizisten, hatte dieser Fall inzwischen übernatürliche Züge angenommen. Allen polizeilichen Ermittlungen zum Trotz hatte ein Krimineller auf grausame Weise vier junge Frauen ermordet und eine ausgeprägte »Handschrift« hinterlassen. Er selbst war dabei unsichtbar geblieben wie ein Geist, besonders im Joy Gate, wo jeder Schritt ein gewaltiges Risiko bedeutete. Zum Beispiel das Verschwinden durch die Hintertür der Bar, wo das Personal jeden Moment zurückkehren und ihn bemerken konnte, oder das Verlassen des Hotels in Uniform mit der bewußtlosen Hong am Arm, das leicht von echten Hotelangestellten hätte beobachtet und verhindert werden können. Aber er hatte es trotzdem geschafft.
Yu schlug eine andere Zeitung auf, den Östlichen Morgen , der die Arbeit des Präsidiums in der Regel recht kritisch kommentierte.
Gestern abend kam es vor dem Joy Gate zu einem massiven Polizeieinsatz, der angeblich den Dreispartengirls galt, während in derselben Nacht weit entfernt auf einem Friedhof eine weitere Leiche im roten qipao gefunden wurde.
Es wäre nur eine Frage der Zeit, dachte Yu, bis die Reporter der Identität des letzten Opfers auf die Spur kämen. Während er den Artikel las, rief einer der Labortechniker aus dem Präsidium an.
»Wegen dieser Faser, die Sie an den Zehen des dritten Opfers gefunden haben«, erklärte der Techniker. »Es handelt sich dabei um Wolle. Vermutlich von einem Strumpf, hellrote Wollsocken.«
»Danke Ihnen«, sagte Yu. Das Ergebnis überraschte Yu nicht. Auch Peiqin trug Wollsocken. Schließlich herrschte kaltes Winterwetter, und in dem schäbigen Lokal, wo sie arbeitete, gab es keine Heizung. Doch als Yu sein Mobiltelefon zuklappte, fiel ihm etwas ein. Laut Beschreibung des Nachbarn hatte das Tischfräulein das Haus an jenem Tag in Seidenstrümpfen und hochhackigen Schuhen verlassen. Wie kamen da Wollsocken ins Bild?
»Hallo, Wachtmeister Yu.«
Yu blickte auf und erkannte Duan Ping, eine Reporterin der Wenhui Tageszeitung , die Chen schon einmal im Präsidium interviewt hatte.
»Haben Sie’s gelesen?« Duan deutete auf den Friedhofsartikel in der Zeitung, die Yu sich unter den Arm geklemmt hatte.
»Das ist ungeheuerlich.«
»Nun ja, Wechselfälle des Lebens, wie es sie offenbar auch im Jenseits gibt«, erwiderte Duan. »Inzwischen kann nicht mal mehr Mao friedlich in seinem Kristallsarg ruhen.«
»Den lassen Sie besser raus aus Ihren Lügengeschichten.«
»Das sind keine Lügengeschichten, ob’s Ihnen nun paßt oder nicht. Der Zeitpunkt, der Ort – weshalb? Die Leute vermuten hier die Wurzel des Übels. Sie halten die Morde für eine Rache der Geister, eine Vergeltung aus dem Jenseits. Wer sonst könnte Leichen an so exponierten Orten deponieren, ohne erwischt zu werden? Das ist doch völlig unbegreiflich. Haben Sie vielleicht eine Erklärung dafür, Hauptwachtmeister Yu?«
»Nichts als abergläubischer Quatsch. Diese Grausamkeiten sind während der Kulturrevolution passiert. Hätten die Geister sich rächen wollen, hätten sie wohl kaum zwanzig Jahre damit gewartet.«
»Das sehen Sie vielleicht nicht ganz richtig. Als Maos Stern noch hoch am Himmel stand, hätten die Geister es nicht gewagt, hier Ärger zu machen. Doch jetzt ist ihre Zeit gekommen«, erläuterte Duan. »Es gibt da nämlich noch eine neue Erklärung, die ich selbst erst vor zwanzig Minuten gehört habe. Angeblich sind alle Opfer im roten Kleid Töchter ehemaliger Rotgardisten.«
Die Sache wurde nun also auf eine kollektive Ebene gehoben. Statt einer unglücklichen Frau, die auf dem
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