Blut und rote Seide
außergewöhnlicher Klarheit, bescherte ihm aber keine weiteren Erkenntnisse. Er holte die Akte mit den Unterlagen aus seiner Tasche und studierte sie inmitten des Innenhofs wie ein Mönch seine Sutren, während die Tempelglocke zu schlagen begann.
Beim Umblättern fiel ihm etwas auf – Jasmines Pechsträhne, die im buddhistischen Kontext wie Vergeltung anmutete. Und bekanntermaßen läßt Vergeltung sich Zeit. Viele Chinesen glaubten in einer Art Populärbuddhismus daran, daß Menschen für alles, was sie in diesem oder einem vorigen Leben taten, bestraft oder belohnt wurden.
Auch Tians Unglück konnte man auf diese Weise deuten. Aber bei Jasmine war es einfach zu viel gewesen. Chen glaubte nicht an eine Bestrafung für die Taten aus einem vorigen Leben. Andererseits konnte es kaum Zufall sein, daß Vater und Tochter so viel Pech hatten.
Er erinnerte sich an einen Roman, den er in der Oberschule gelesen hatte: Der Graf von Monte Christo . Hinter einer Serie unerklärlicher Katastrophen steckte der Graf von Monte Christo, der unermüdlich an seiner Rache arbeitete.
Konnte ähnliches auch auf Jasmine zutreffen?
Auf sie und ihren Vater? Tian war in jenen Jahren Mitglied der Mao-Trupps gewesen und konnte in dieser Eigenschaft jemandem unrecht getan haben, der oder die sich später rächte. Das würde auch Stoff und Machart des Kleides erklären.
Aber warum erst heute, falls es sich tatsächlich um Vergeltung für eine Tat aus der Kulturrevolution handelte?
Und was hatten die anderen jungen Frauen damit zu tun?
Er wußte auf diese Fragen keine Antwort. Doch die letzte Frage ließ ihn den Unterschied zwischen Jasmine und den anderen in neuem Licht sehen.
Vielleicht existierte gar keine Verbindung zu Jasmine.
Wieder trug der Wind den Klang der Tempelglocke herüber. Eine vage Möglichkeit, die sich in seine Gedanken drängte, machte ihn zittern.
Es war Zeit, ins Präsidium zurückzukehren. Er würde mit Hauptwachtmeister Yu sprechen, dessen Frust über den unerklärlichen Urlaub seines Chefs aus allen Telefonbotschaften klang. Ob er seinem Partner eine befriedigende Erklärung würde geben können, wußte Chen noch nicht. Den Nervenzusammenbruch wollte er dabei lieber nicht erwähnen, nicht einmal Yu gegenüber.
Am Ausgang des Tempels erreichte ihn der Rückruf des Vorsitzenden Wang.
»Entschuldigen Sie, Oberinspektor Chen, daß ich vorhin nicht abgehoben habe. Ich war gerade Hände waschen, habe Ihre Nachricht aber erhalten. Daraufhin fiel mir Xiong Ming ein, pensionierter Journalist aus Tianjin. Er hat ein Lexikon über Kontroversen in Literatur und Kunst zusammengestellt. Da er ein alter Freund von mir ist, habe ich ihn sofort angerufen und folgendes erfahren. Es gab da das preisgekrönte Foto einer jungen Frau im qipao , später ist das Bild in die Kritik geraten. Am besten, ich gebe Ihnen Xiongs Telefonnummer. Sie erreichen ihn unter 02-8625252.«
»Vielen Dank, Vorsitzender Wang. Sie waren mir eine große Hilfe.«
Bevor er Xiongs Nummer wählte, legte Chen eine weitere Banknote in die Kollekte beim Eingang.
Nachdem er sich kurz vorgestellt hatte, kam er geradewegs auf den Grund seines Anrufs zu sprechen: »Vorsitzender Wang erzählte mir, Sie hätten Informationen über ein umstrittenes Foto von einer Frau im qipao . Sie erwähnen es in Ihrem Lexikon.«
»Stimmt«, bestätige Xiong am anderen Ende der Leitung. »Heutzutage erinnert sich kaum noch jemand an die absurden Kontroversen jener Jahre, als man alles und jeden durch politische Interpretation in den Schmutz ziehen konnte. Haben Sie den Film Frühling im Februar gesehen?«
»Ja. Soweit ich weiß, wurde er in den frühen Sechzigern verboten. Damals war ich noch in der Grundschule und hatte das Foto der schönen Heldin in meiner Schublade versteckt.«
»Er kam wegen der angeblich bürgerlichen Eleganz der Hauptdarstellerin in die Kritik«, sagte Xiong. »Dasselbe ist jener Frau im qipao auf dem Bild zugestoßen.«
»Können Sie mir mehr über dieses Foto sagen?« fragte Chen nach. »War es ein rotes Kleid?«
»Es zeigt eine schöne Frau in einem eleganten qipao zusammen mit ihrem Sohn, einem jungen Pionier mit rotem Halstuch. Er zieht sie an der Hand mit sich und deutet auf den fernen Horizont. Das Bild trägt den Titel: ›Laß uns dorthin gehen, Mutter.‹ Der Hintergrund wirkt wie ein privater Garten. Die Aufnahme ist schwarzweiß, deshalb weiß ich nicht, welche Farbe das Kleid hat, auf jeden Fall wirkte es sehr geschmackvoll.«
»Aber
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