Blut und rote Seide
Schnecke ihr Haus.«
»Die Schnecke erscheint Ihnen so, weil Sie sie so denken. Alles ist Schein.«
»Das haben Sie schön gesagt, Meister«, entgegnete Chen ehrerbietig; der alte Mönch machte einen gelehrten Eindruck. Chen mußte an Geschichten von plötzlicher Erleuchtung denken, wie sie Wahrheitssuchende in alten Tempeln gefunden hatten. Vielleicht wäre dies auch ein Weg für seine Ermittlungen. »Buddhisten sprechen vom Blick hinter die Dinge, hinter die Eitelkeiten dieser Welt. Ich bemühe mich darum, aber es gelingt mir nicht.«
»Sie sind kein gewöhnlicher Mann, das sehe ich. Kennen Sie die Geschichte von der plötzlichen Erleuchtung des Liuzhu?«
»Ich habe sie gelesen, aber das ist lange her. Die Metapher eines Bronzespiegels kommt darin vor, nicht wahr?«
»Ja und nein«, erwiderte der alte Mönch. »Ein alter Abt wollte seinen Nachfolger benennen und beschloß, seine Jünger auf die Probe zu stellen. Der aussichtsreichste Kandidat für die Nachfolge brachte ihm ein Gedicht: ›Mein Körper ist wie der Bodhi-Baum, / mein Herz, ein Bronzespiegel, / welchen ich blank poliere, / damit kein Stäubchen darauf zurückbleibt.‹ Nicht schlecht, werden Sie sagen. Doch der Außenseiter Huineng, einer aus der Putzkolonne, bewies in seinem Gedicht die wesentlich tiefere Einsicht: ›Bodhi ist kein Baum, / und ein Spiegel kein Herz. / Da ist nichts. / Woher also käme der Staub?‹«
»Ja, jetzt erinnere ich mich. Huineng hat tiefer gesehen, und er hatte Erfolg.«
»Alles ist Schein. Der Baum, der Spiegel, das Selbst und die Welt.«
»Und dennoch leben wir in der Welt, Meister.«
»Wer beschäftigt ist, dem gelingt es nicht so leicht, hinter die Dinge zu sehen. Ein altes Sprichwort sagt: Lege dein Messer weg, und du wirst zum Buddha. Aber so einfach ist das nicht.«
»Wie recht Sie doch haben. Ich bin einfach zu beschränkt.«
»Nein. Erleuchtung zu erlangen ist nicht leicht. Aber Sie können versuchen, Ihren Geist von allen störenden Gedanken zu befreien – zumindest für kurze Zeit. Man muß einen Schritt nach dem anderen tun.«
»Danke vielmals, Meister.«
»Diese Begegnung war uns vorbestimmt«, sagte der alte Mönch und legte in einer Geste der Verabschiedung die Handflächen gegeneinander. »Sie brauchen mir nicht zu danken. Leben Sie wohl. Wir werden uns wiedersehen, wenn es so beschlossen ist.«
Im Buddhismus wurden alle Ereignisse als Folge des Karma angesehen – ein Schluck Wasser, das Picken eines Vogels oder die Begegnung mit einem alten Mönch; alles ergab sich aus dem, was zuvor geschehen war, und setzte weitere Ereignisse in Gang.
Warum also nicht, wie der Mönch ihm geraten hatte, alles vergessen, was er bisher über den Fall wußte, und die Ereignisse aus einem neuen Blickwinkel betrachten?
Er blieb an das steinerne Geländer gelehnt stehen und schloß die Augen, um seinen Geist leer zu machen. Zunächst wollte ihm das nicht gelingen. Menschliche Wahrnehmung verläuft im Rahmen vorgefaßter Ideen und Bilder, niemand lebt schließlich in einem Vakuum.
Er holte tief Luft und konzentrierte sich auf den dantian , einen Akupressurpunkt unmittelbar über dem Nabel, eine Technik, die er seinerzeit im Bund-Park gelernt hatte. Allmählich stimmte sich sein Energiefluß auf die Umgebung des Tempels ein.
Plötzlich sah er das Bild eines roten qipao vor sich.
Doch etwas an dieser Erscheinung war anders, ungewohnt. Er sah das Kleid von damals aus den Sechzigern, im Hintergrund die flatternden roten Fahnen der Sozialistischen Umerziehungsbewegung. Er selbst trug das rote Halstuch der jungen Pioniere und brüllte die Parolen der »revolutionären Massen«. Auf einmal wurde ihm klar, wie anstößig ein solches Kleid in jenen Jahren, egal ob im Film oder in der Realität, gewirkt hatte.
Sofort rief er Wang, den Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes, auf dem Mobiltelefon an. Als dieser nicht abnahm, hinterließ er eine Botschaft, in der er betonte, das Bild des roten qipao , nach dem er suche, könne auch Gegenstand einer Massenkritik in den frühen Sechzigern gewesen sein.
Von dieser Erfahrung ermutigt, probierte Chen es noch einmal, doch diesmal wollten sich keine Bilder einstellen. Er verstärkte seine Konzentration, indem er sich im Lotossitz niederließ und den Fall von Anfang an vor seinem geistigen Auge vorüberziehen ließ – nicht wie ein Polizist, sondern wie ein Mensch, dessen Verstand nicht durch die Polizeiausbildung geprägt war. Sein Geist gelangte zwar zu
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