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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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während er sich Sorgen über seinen Nervenzusammenbruch machte. Jetzt war er in der Gegenrichtung unterwegs und schwitzte beim Gedanken an die jüngste Entwicklung im Fall des Serienmörders. So vieles war unterdessen in Shanghai geschehen, doch er hatte die Zeit – zumindest einen Großteil davon – wie ein Idiot verschlafen und sich Gedanken über jahrtausendealte Liebesgeschichten gemacht.
    Ihn schauderte, wenn er an das Totengeld dachte, das er am Freitag morgen auf dem Bauernmarkt gekauft hatte. Er war nicht abergläubisch, aber dieses Zusammentreffen verunsicherte ihn doch.
    Erst nachdem es Yu gelungen war, Weiße Wolke zu erreichen, wurde ihr der Ernst der Lage bewußt. Dennoch hatte sie ihm aus Sorge um seinen Gesundheitszustand nicht sofort Bescheid gegeben. Sie war schließlich keine Polizistin. Erst als sie heute morgen von seiner Besserung erfahren hatte, hatte sie ihm über die Vorfälle im Joy Gate berichtet. Daraufhin hatte er seinen Urlaub natürlich sofort abgebrochen und war in den nächsten Überlandbus nach Shanghai gestiegen. Er hatte nicht einmal die Zeit gefunden, sich bei seinem Gastgeber zu bedanken.
    Während der Taxifahrt kreisten seine Gedanken um Hong. Er hatte sie erst im Zusammenhang mit dem Serienmord näher kennengelernt.
    Es hieß, sie habe einen Freund, der als Chirurg am Chinesisch-Japanische-Freundschaftskrankenhaus arbeite und sie zum Aufhören drängte, da er der Meinung war, ihr bescheidenes Einkommen stehe in keinem Verhältnis zu den Gefahren, denen sie sich in ihrem Beruf aussetzte. Sie hingegen glaubte an ihren Auftrag. Bei der Neujahrsfeier im Präsidium hatte sie ein Gedicht über einen wahren »Volkspolizisten« vorgetragen. Poetisch gesehen wenig bemerkenswert schilderte der Text eindringlich den Einsatz eines jungen Beamten, der in der Stadt Streife ging. Einer der Refrains hatte, wie Chen sich erinnerte, gelautet: »Die Sonne ist jeden Morgen neu.«
    Nicht für sie, nicht heute.
    Er sah hinaus auf den Verkehrsstau auf der Yan’an Lu und wußte, daß er seinen Seelenfrieden erst dann wiederfände, wenn er sie gerächt hatte.
    Er öffnete seine Aktentasche und wollte den Ordner mit den Unterlagen herausholen, den er während seines Urlaubs nicht angerührt hatte. Als er ihn aus der Tasche zog, bemerkte er darunter sein Mobiltelefon, abgeschaltet natürlich. Es hatte die ganze Zeit dort gelegen, obgleich er sich sicher war, daß er es nicht hatte mitnehmen wollen. Ihm war unerklärlich, wie es in die Tasche gekommen war. Offenbar war doch etwas dran an Freuds Theorie vom Unterbewußten. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, sich darüber Gedanken zu machen.
    Als er seine Anrufe durchsah, merkte er, daß außer Yus detaillierter Botschaft auch Li und mehrere andere höhere Beamte ihn kontaktiert und zur Rückkehr gedrängt hatten. Selbst der Alte Jäger schien über seine Abwesenheit irritiert und hatte eine entsprechende Nachricht hinterlassen. Eine junge Polizistin hatte ihr Leben gelassen bei dem Versuch, einen Serienmörder in die Falle zu locken, der die Polizei an der Nase herumführte. Es handelte sich um eine Krise, wie sie das Präsidium noch nie erlebt hatte.
    Zu allem Übel konnten sie nicht einmal offen ermitteln. Sie mußten den sprichwörtlichen ausgeschlagenen Zahn schlucken, ohne Blut zu spucken. Sobald die Öffentlichkeit von der Identität des letzten Opfers erfuhr, würde das nicht nur eine ungeheure Demütigung für die Polizei sein, sondern auch eine Welle der Panik in der Bevölkerung auslösen.
    Derzeit galt die Identität des Opfers offiziell noch als unbekannt, aber das würde, wie jeder im Präsidium wußte, nicht mehr lange so bleiben. Yu hatte in seiner Botschaft angedeutet, daß die Reporter bereits auf der richtigen Spur waren. Im Moment hatten Yu und seine Kollegen jedoch andere Sorgen. Was würde Ende der Woche geschehen? Inzwischen zweifelte niemand mehr daran, daß die Serie fortgesetzt würde. Andererseits glaubte keiner, daß der Täter innerhalb der nächsten zwei Tagen gefaßt sein könnte.
    Chen sah auf die Uhr. Kurz vor zehn. Er entschied sich, weder ins Präsidium zu fahren noch Yu zu verständigen.
    Eines beunruhigte ihn besonders. Die Joy-Gate-Episode – diese von der Kleinanzeige bis zum Verschwinden durch den Personaleingang präzise durchorganisierte Meisterleistung – konnte nur geplant worden sein, wenn der Täter von Anfang an über Hongs Einsatz Bescheid wußte. Je länger Chen darüber nachdachte, desto überzeugter

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