Blut Von Deinem Blute
neben ihr in der spiegelnden Fensterscheibe auftauchte.
Entgeistert drehte sie sich um. »Leon!«
»Hallo, Laura.«
Sie hatte den Eindruck, dass er gelitten hatte, ohne dass sie sagen konnte, woran sie diesen Eindruck festmachte. »Was tust du denn hier?«
»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
Sie starrte ihn an. »Und daraus leitest du die Notwendigkeit ab, mich bis hierher verfolgen zu müssen?« Eigenartigerweise war sie nicht wütend, sondern fassungslos. Dabei hätte sie eigentlich wütend sein müssen. Sie hasste es, wenn man von ihr Besitz ergriff, und einen Menschen, der einen noch nicht einmal zurückrief, wenn man ihn darum bat, Hunderte von Kilometern weit auf eine Insel zu verfolgen, bedeutete nichts anderes, als dass man von ihm Besitz ergreifen wollte.
»Ich wollte sehen, wie es dir geht.«
»Und?«, fragte sie schnippisch. »Wie geht es mir?«
»Dir ist kalt«, befand er, ohne weiter auf den unausgesprochenenVorwurf einzugehen. Der Regen ließ sein Haar dunkler wirken. »Lass uns irgendwo einen Kaffee trinken, ja?«
Mit welcher Selbstverständlichkeit er das Heft in die Hand nahm! Laura schüttelte den Kopf, während sie überlegte, wie lange er sie schon vor dem Schaufenster hatte stehen sehen. Wie lange hatte er sich wappnen können, wie viel Zeit hatte er gehabt, sich seine Vorgehensweise zu überlegen? Und wie viel Zeit blieb ihr jetzt? Sie wollte nichts mit ihm trinken. Sie wollte nicht reden und ihm auch ganz bestimmt keine Gelegenheit geben, Fragen zu stellen. Andererseits fiel ihr nichts ein, womit sie das hätte verhindern können. Keine Ausrede. Keine Erklärung. Nichts. Ihr Kopf fühlte sich leer an. Vollkommen leer. Vielleicht habe ich mich in den vergangenen Tagen einfach zu oft verraten, hilflos und desorientiert gefühlt, um noch in angemessener Weise reagieren zu können, dachte sie, während sich irgendwo hinter ihrer Stirn die Stimme ihrer Tante materialisierte. Nicht zu reagieren ist auch eine Reaktion. Vielleicht die gravierendste von allen ...
»Komm.« Er hatte seine Jacke ausgezogen und legte sie ihr um die Schultern. Das Futter atmete noch die Wärme seines Körpers. »Da drüben ist ein hübsches kleines Cafe«, erklärte er, als kenne er sich tatsächlich aus auf der Insel, auf der sie aufgewachsen war und die ihm vollkommen fremd sein musste. Noch viel fremder als ihr selbst. »Es sind nur ein paar Schritte.«
Laura wollte etwas einwenden, doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund brachte sie kein Wort heraus. Stattdessen folgte sie ihm widerstandslos in den strömenden Regen.
An der nächsten Ecke gab es tatsächlich ein kleines Kaffeehaus, genau wie er gesagt hatte. Wohlige Wärme flutete ihnen entgegen, als er ihr die Tür aufhielt und kurz hinter der Schwelle auch die durchnässte Jacke wieder abnahm. Wärme und Kaffeeduft, Kuchen und Tee. Laura begann zu zittern. Sie war nicht sicher, ob sie so viele tröstende Gerüche überhaupt ertragen konnte. Doch es schien keinen Fluchtweg zu geben. Nur die Tür, durch die sie gekommen waren. Und dort stand Leon.
»Wie wär's dahinten?«
Das Cafe war gut besucht, und sie setzten sich an einen Tisch in der entgegengesetzten Ecke, gerade groß genug für zwei Personen.
»Es wäre besser, wenn du auch die Strickjacke ausziehst«, sagte er, indem er ihr eine liebevoll gestaltete Speisekarte über den Tisch reichte. »Sie ist nass.«
Laura tat, wie ihr geheißen, und hängte die Jacke hinter sich über den Stuhl.
»Du siehst müde aus.«
Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht, ohne dass sie sich bewertet gefühlt hätte. Dabei achtete sie von jeher penibel auf ihre Fassade. Darauf, wie sie aussah, welche Reaktionen sie bei ihren Mitmenschen hervorrief. Welchen Eindruck sie machte. Das hatte sie schon immer getan, und »Du siehst müde aus« war ein Satz, der sie unter normalen Umständen dazu gebracht hätte, auf der Stelle in der nächsten Toilette zu verschwinden, um ihr Make-up aufzufrischen und sich anschließend tagelang für ihre Nachlässigkeit zu bestrafen. Doch hier und heute war alles anders.
Ja, hätte sie am liebsten geantwortet, ich sehe müde aus. Was soll ich jetzt machen?
Sie strich sich die Haare zurück und stellte fest, dass sie sich in der Wärme des Cafes zu kräuseln begannen. Die fehlende Länge ließ ihre Naturwelle stärker hervortreten, und sie überlegte, ob ihm die neue Frisur gefiel. Mochte er überhaupt Frauen, die kurze Haare hatten? Sie kniff die Augen zusammen und suchte in seiner
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