Blut will Blut
Spraggue wußte es, Grayling wußte es: Caroline Ambrose
war die reinste Katastrophe. Sie bestand hartnäckig darauf, die Mörder des
Vampirs auf die «viktorianisch weibliche Art» anzugreifen, indem sie
wirkungslos mit den Fäusten auf Hudsons Brust eintrommelte. Wieder und wieder
ließ Hudson, der Experte für Kampfszenen, sie die Szene durchspielen, versuchte
dabei, Caroline weniger lächerlich wirken zu lassen. Spraggue bewunderte seine
Geduld.
Caroline war erheblich besser,
wenn es darum ging, einen Wutanfall zu bekommen. Gott sei Dank. Sie kreischte
überzeugend, als Van Helsing und Harker ihren strampelnden Körper von der Bühne
trugen, fort vom Lager des Vampirs. Aber den Schlag vermasselte sie jedesmal.
Spraggue mußte Caroline
schlagen. Als Leiter einer Irrenanstalt wußte er, wie er mit Hysterie umzugehen
hatte. Er zog seine Hand zurück, ließ sie schnell und hart vorschnellen.
Garoline riß den Kopf zur Seite. Der Schlag verfehlte ihr Kinn.
«Caroline», jammerte Hudson.
«Nein! Nein! Nein! Sie müssen sich schlagen lassen! Drehen Sie
den Kopf mit dem Schlag weg. Es wird schon nicht weh tun! Er wird Sie
direkt unterhalb des Wangenknochens erwischen. Das klingt gut. Und ist völlig
ungefährlich. Wenn Sie so zurückzucken, renkt er Ihnen womöglich noch den
Kiefer aus!»
«Tut mir leid, Greg.» Caroline
klimperte mit ihren fliederfarbenen Wimpern. «Ich habe eben einfach Angst!»
«Es kann überhaupt nicht weh
tun, wenn Sie darauf vorbereitet sind. Passen Sie auf.» Hudson drehte sich zu
Spraggue. «Schlag mich. Genau so, wie du versucht hast, Caroline zu schlagen.»
Es klatschte gewaltig. «Sehen Sie? Glauben Sie mir, es tut nicht weh. So, und
jetzt noch mal mit Caroline, Spraggue. Zuerst in Zeitlupe.»
Bei halber Geschwindigkeit war
alles in Ordnung. Als die Hand ihre Wange traf, drehte sie den Kopf mit dem
Schlag zur Seite.
«Perfekt!» meinte Hudson. «Sie
müssen spüren, wie er kommt. Die Verantwortung für eine tolle Ohrfeige
liegt bei dem Empfänger, nicht bei dem, der sie austeilt. Sehen Sie der Sache
ins Auge, Caroline! Nehmen Sie den Schlag! Vertrauen Sie ihm. Spraggue wird
Ihnen schon nicht weh tun, sofern Sie nichts Unvorhergesehenes machen.»
Caroline lächelte Spraggue
ängstlich an.
«So, noch mal jetzt», befahl
Hudson.
Spraggue holte aus. Caroline
rührte sich nicht, zuckte nicht zurück, versuchte nicht, den Kopf mit dem
Schlag wegzudrehen. Die Kraft des Schlages stieß ihren Kopf zur Seite. Sofort
flammte ein knallroter Fleck auf ihrem Gesicht auf. Sie funkelte Hudson
herausfordernd an.
«Guter Sound!» brüllte Darien
von unten. «Weiter so!»
Hudson schüttelte grimmig den
Kopf. Caroline nahm wieder ihren Platz ein. Sie hob keine Sekunde eine Hand, um
die brennende Wange zu reiben.
Spraggue kam sich benutzt vor,
war zum Teil wütend auf sich, ihr weh zu tun, sehnte sich aber auch danach, ihr
wieder ein Ding zu verpassen. Also hatte sie vielleicht irgend etwas getan,
weswegen sie Bestrafung verdiente. Vielleicht war sie so was wie eine Masochistin.
Sie konnte sich gottverdammt nicht darauf verlassen, daß er seinen Schlag
bremste.
Wie in Trance spielte er den
Rest der Szene, tauchte kaum genug aus seinem Tran auf, um sich zu fragen,
wieso das Theatermesser ihm so bekannt vorkam. Doch es kitzelte nur sein
Unterbewußtsein.
Kapitel
Sechzehn
In der Mittagspause entlockte
er Karen Georginas Adresse und Telefonnummer: ein billiges Hotel im
Rotlichtviertel der Stadt. Sollte er sie anrufen? Nein. Wenn sie zu Hause war,
bevorzugte er einen improvisierten Dialog. Einstudierte Antworten hatte er
allmählich satt.
Er klemmte Karens Buch über die
Bostoner Theater unter den Arm und rief sich auf der Mass Ave ein Taxi.
Zimmer 541. Der schwitzende
Mann an der Rezeption grinste ihn anzüglich an.
«Soll ich sie anrufen», fragte
der Mann mit einem süffisanten Grinsen seines lückenhaften Gebisses, «oder
erwartet die Lady Sie?»
«Sie erwartet mich», erwiderte
Spraggue.
Der Mann kritzelte etwas auf
einen Block. Wahrscheinlich notierte er sich jeden Besucher. In diesem Hotel
wechselten sie wahrscheinlich stundenweise. Vielleicht gab es einen Aufpreis
für jeden.
Spraggue marschierte über den
verfärbten Teppich zur Treppe. Jeder Absatz war schmaler als der vorhergehende.
Und roch übler. Im vierten Stock holte er tief Luft und hielt sie an, bis er
vor Zimmer 541 stand.
Sie antwortete auf das Klopfen
mit einem ängstlichen «Wer ist da?»
«Michael Spraggue.»
«Oh. Äh.
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