Blutbeichte
Schriftexperten könnten uns mehr sagen?«, fragte Rencher.
»Bestimmt nicht viel, wenn überhaupt. Seht euch das Papier an, den Umschlag, den Stift – sieht mir eher nach Massenware aus. Falls wir noch einen Brief bekommen, können die Kollegen uns sagen, ob er von demselben Verfasser stammt. Und falls es Probleme gibt, wenn wir ihn zur Strecke bringen, können sie seine Schriftproben für einen Vergleich benutzen. Das ist alles. Als Erstes geben wir den Brief an die Kriminaltechnik weiter, damit sie ihn nach Fingerabdrücken untersuchen.« Joe zeigte auf seinen Notizblock. »Seltsam. Ist dem Schreiber denn nicht klar, dass seine Fährte leicht zurückzuverfolgen ist? Ich habe die Uhrzeit und den Ort, ab dem der Brief aufgegeben wurde, hier auf dem Stempel. Ich setze mich mit der Poststelle in Verbindung und erkundige mich, ob Filmmaterial aus Überwachungskameras zur Verfügung steht. – Könntest du mir die Ortis-Akte geben, Bobby?«
»Klar.« Bobby reichte sie ihm.
Die anderen diskutierten, während Joe langsam die Akte durchblätterte.
»Hast du das VICAP-Formular ausgefüllt?« In der FBI-Datenbank VICAP wurden die im gesamten Land verübten Gewaltverbrechen – vor allem Mordfälle – gesammelt, verglichen und analysiert.
»Für Ortis?«
»Ja.«
Bobby zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, ich hab’s nicht ausgefüllt.«
»Du hast das VICAP-Formular nicht ausgefüllt?« Joes laute Stimme klang durch das Büro.
»Füllt ihr die immer aus?« Bobbys Blick schweifte von einem zum anderen. »Es sind bloß hundert blöde Fragen, die keinem weiterhelfen. Das weiß doch jeder. Stundenlang sitzt man da, um den Quatsch zu beantworten. In der Zeit könnte man seine Ermittlungen vorantreiben, was viel sinnvoller wäre.«
»Begreifst du denn nicht, dass es Ethan Lowry hätte helfen können, wenn wir eine Verbindung hergestellt hätten?«, sagte Joe.
Bobby verzog das Gesicht.
»Und um deine Frage zu beantworten – ja, ich fülle die Formulare immer aus. Und das werde ich auch in Zukunft tun.«
William Anetos Mutter Carmen wohnte in der Hundertsechzehnten Straße in East Harlem über dem Lebensmittelgeschäft, das ihr gehörte. Die Tür, an der ein goldener Türklopfer hing, war in einem satten Grün frisch gestrichen.
Martinez klingelte, doch niemand öffnete.
»Das stinkt ganz schön.« Danny spähte in den Laden. Dann hob er die Hand, um noch einmal zu klingeln.
Martinez schlug seine Hand weg und klingelte selbst. »Das hier ist mein Auftritt.«
Mrs Aneto öffnete die Tür und warf ihnen einen müdenBlick zu. Sie war eine kleine Frau Anfang fünfzig, die ein marineblaues Kostüm und Schuhe mit niedrigen Absätzen trug. Ihr Haar hatte sie ordentlich zu einem Knoten im Nacken frisiert. Sie hatte kein Make-up aufgelegt. Martinez begrüßte sie auf Spanisch und stellte sich und seinen Kollegen vor.
Die Frau starrte Martinez an. »Sie müssen der Alibi-Detective sein.«
Er runzelte die Stirn. »Wie bitte?«
»Die Polizei schickt einen Detective, der dieselbe Hautfarbe hat wie das Opfer«, erklärte sie.
Martinez erwiderte etwas auf Spanisch, worauf Mrs Aneto sich lächelnd geschlagen gab und die beiden Detectives eine schmale Treppe hinauf und in eine kleine Wohnung führte.
Das Wohnzimmer war ziemlich verwohnt. Auf der Couch stapelten sich Frauenzeitschriften, und auf der Lehne lagen zwei Bücher. Auf einem Tablett standen eine Teekanne, eine Tasse und ein Teller mit Plätzchen. Mitten auf dem Couchtisch stand eine mit Kandiszucker gefüllte Schale. Hinter dem Breitbildfernseher waren hohe Regale mit DVDs zu sehen, und unten waren mehrere Reihen mit Kassetten gefüllt, die mit weißen, handgeschriebenen Etiketten versehen waren.
Mrs Aneto setzte sich in einen Lehnstuhl und stellte den Fußhocker zur Seite, der davorstand. Danny und Martinez setzten sich nebeneinander auf die Couch. Martinez beugte sich vor und stützte einen Unterarm aufs linke Knie. Er sprach Spanisch. »Mrs Aneto, Sie haben gesagt, dass Ihr Sohn Sie in der Nacht, als er starb, angerufen hat, um Ihnen eine gute Nacht zu wünschen. Hat er sonst noch etwas gesagt?«
»Wir sollten unserem weißen Gast gegenüber nicht unhöflich sein«, sagte Mrs Aneto auf Englisch. »Warum stellen Sie mir diese Frage?«
»Weil es in unseren Ermittlungen neue Entwicklungen gibt …«
»Was für neue Entwicklungen?«
»Wir vermuten, es könnte ein weiteres Opfer gegeben haben.«
Mrs Aneto riss die Augen auf. »Ein Weißer?«
»Ja«, sagte
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