Blutbeichte
angezeigt, die er seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen, aber nie gelöscht hatte: Anna (W).
Er runzelte die Stirn, als er das Handy ans Ohr setzte.
»Anna?«, fragte er.
»Wissen Sie, wo sie ist?« Es war die panische Stimme von Chloe, Annas Chefin.
Joe verschlug es die Sprache. Anna musste doch im W Hotel am Union Square sein! Die Nummer, die er heute Morgen in seinem Handy gespeichert hatte. Für den Fall der Fälle.
»Was ist denn los?«, fragte Joe. Von seinem Hunger spürte er nichts mehr; die Leere in seinem Magen war plötzlich mit Angst gefüllt.
»Anna ist heute Morgen nicht zu den Aufnahmen erschienen. Ich habe versucht, sie auf dem Handy und zu Hause zu erreichen. Nichts. Ihre Handynummer hat sie für Notfälle dagelassen. Tut mir leid, dass ich Sie störe …«
Joe seufzte. »Was hat das zu bedeuten? Als ich heute Morgen gegangen bin, wollte sie die U-Bahn zum Union Square nehmen, und es war alles in Ordnung …«
»Sie ist hier nicht aufgetaucht. Das passt gar nicht zu ihr.«
»Stimmt«, sagte Joe.
»Und nun?«, fragte Chloe. »Was sollen wir tun?«
»Überlassen Sie das mir.«
»Danke«, sagte Chloe. »Ich mache mir Sorgen.«
Ich auch, dachte Joe. Er stand auf der Straße, drückte mit zittrigen Fingern auf die Tasten seines Handys und suchte nach verpassten Nachrichten oder Anrufen, die er überhört hatte – nichts. Dann wählte er die Nummer von Annas Handy, anschließend die ihres Festanschlusses zu Hause. Beide Male erreichte er nur die Mailbox. Er schaute hinüber zu seinem Wagen auf der anderen Straßenseite und lief los.
Anna lag im Pyjama im Bett und schlief. Sie hatte sich wie ein Embryo zusammengerollt und drückte sich ein Kissen an die Brust. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere, bis sie plötzlich wie erstarrt auf dem Rücken liegen blieb und das Kissen zur Seite warf. Bilder zogen über sie hinweg und drückten sie gleichsam aufs Bett. Es war eine ungeheure psychische Belastung, die Anna am ganzen Körper spürte. Sie presste die Lippen aufeinander. Sie wollte schreien, konnte aber nicht. Gespenstische Augen und Münder, die sich immer wieder veränderten, schwebten über ihr, glitten ihre Brust hinauf, verharrten drohend vor ihrem Gesicht, schwebten davon und wurden von anderen ersetzt. Jede neue Fratze ließ panische Angst in ihr aufsteigen. Die Hände zu Fäusten geballt, die Augen fest zusammengekniffen, lag sie da. Ein verzweifelter Schrei erstarb in ihrer Kehle.
Anna hörte, dass jemand ihren Namen rief. Immer wieder. Doch es war eine freundliche, warme Stimme. Anna brachte sie mit einem lieben Menschen in Verbindung. Jemand, dersich um sie kümmerte. Sie entspannte sich ein wenig. Unwillkürlich stieß sie den aufgestauten Schrei aus, gefolgt von einem Stöhnen. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie riss die Augen auf und sah Joe. Er saß neben ihr, zog sie auf seinen Schoß, streichelte ihr Haar und küsste sie auf den Kopf.
»Es ist alles gut, Liebling«, sagte er. »Alles ist gut. Ich bin bei dir. Du brauchst keine Angst zu haben. Es war nur ein Albtraum. Es ist nichts passiert.«
Die Erleichterung in ihrem Blick brach ihm beinahe das Herz.
»Wieder die Schlafparalyse«, sagte sie. »Ich dachte, ich hätte es hinter mir. All diese schrecklichen Bilder …«
»Pssst«, flüsterte Joe. »Es ist vorbei. Wir gehen jetzt beide in die Küche. Ich koche dir einen Kräutertee und mir eine Kanne Kaffee. Ich kann einen starken Kaffee jetzt gut gebrauchen.«
»Warum bist du zu Hause?«, fragte Anna. »Wie spät ist es?«
»Ich bin zu Hause«, sagte Joe, »weil ich meine Frau vermisst habe.«
7
»Bist du nach Irland geflogen und hast da die Kühe gemolken?«, fragte Rencher.
»Latte Macchiato ist doch was Feines«, erwiderte Joe.
»Mehr hast du mir nicht mitgebracht?«
»Doch. Hier hast du noch zwei Muffins.« Joe legte sie auf Renchers Schreibtisch.
»Was soll das?« Rencher riss die Augen auf. »Sehe ich aus, als müsste ich gemästet werden?«
»Du siehst aus, als solltest du öfter lachen. Wo sind die anderen? Ich hab noch ein paar Becher Kaffee übrig.«
»Du bist vor zwei Stunden hier abgehauen. Vielleicht wunderst du dich, aber die anderen haben inzwischen das Büro verlassen, um ihre Ermittlungen weiterzuführen.«
»Und das tue ich nicht?«
Rencher neigte den Kopf zur Seite.
»Geh wieder an die Arbeit«, sagte Joe und setzte sich seufzend an seinen Schreibtisch. Er öffnete das Adressbuch seines Computers, suchte nach
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