Blutbeichte
setzte sie auf, stellte jedoch fest, dass sie ihr iPod nicht dabeihatte.
»Merde.« Jetzt erinnerte sie sich, es in der Küche auf dem Verstärker gesehen zu haben. »Merde!«
Anna schaute auf die Uhr und überlegte, ob sie zurück nach Hause laufen sollte; stattdessen zwang sie sich, die U-Bahn-Station zu betreten, und stieg die Treppe hinunter. Laute Stimmen hallten aus der Tiefe zu ihr hinauf. Als sie unten ankam, sah sie eine große, gut gekleidete Frau, die einen schmuddeligen Jugendlichen an den Schultern packte und gegen den Fahrscheinautomaten stieß. Der Junge spuckte ihr ins Gesicht. Die Frau warf ihm Geld an den Kopf und ging davon. Anna hatte kein Interesse, über diesen Vorfall nachzudenken. Sie senkte den Kopf und lief schnell an dem Jugendlichen vorbei. Es ärgerte sie, dass ihr Herz plötzlich heftiger schlug. Es geschah zu schnell, und es genügte schon eine kleine Auseinandersetzung, eine abrupte Bewegung, ein lautes Geräusch, um sie aus der Fassung zu bringen. Doch wenn sie ihren MP3-Player eingeschaltet hatte, vermittelte Mozart ihr das Gefühl, sie könne sich überall aufhalten, ohne von ihrer Umgebung behelligt zu werden.
Anna entwertete ihre U-Bahn-Karte und wartete am Bahnsteig. Sie spähte zu der Frau in dem Kostüm hinüber und versuchte, sie im Auge zu behalten. Wie es aussah, kam die Frau gerade von einem Drogentrip runter. Anna hörte den jungen Mann hinter ihr schreien: »Blöde Schlampe! Sie hat mein Geld genommen!« Dann: »Nein! Ich hab’s hier! Das verdammte Miststück hat es mir an den Kopf geworfen.«
In der Menge entstand Unruhe. Die Frau ging hoch erhobenen Hauptes davon, schwang ihre Handtasche und lauschte der Melodie in ihrem Kopf. Der Zug fuhr ein, und die Menge geriet in Bewegung. Es war Rushhour, und Anna, eine kleine, zarte Person, wurde in eine Lücke neben einem Studenten gepresst, der sie entschuldigend anlächelte. Anna erwiderte das Lächeln.
Zu Beginn der Fahrt konzentrierten sich alle auf ihre Bücher und Zeitungen, oder sie unterhielten sich. Anna starrte durchs Fenster. Dann öffneten sich die Türen der U-Bahn an der Cortlandt Street und blieben geöffnet. In Anna stieg Panik auf. Aus den Lautsprechern auf den Gleisen dröhnten Durchsagen. Niemand verstand ein Wort. Die Menschen hoben die Blicke und musterten stirnrunzelnd die anderen Fahrgäste im Abteil.
Anna hatte das übermächtige Verlangen, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen und auf den Bahnsteig zu flüchten. Doch die Gewissheit, dass alle Leute sie anstarren würden, wenn sie in Panik geriet, nur weil ein Zug zwei Minuten länger als gewöhnlich stehen blieb, hielt sie zurück. Der Schweiß auf ihrem Rücken sickerte in ihr Top. Sie spürte die Hitze derMenschen ringsherum, ihren heißen Atem, roch ihre Ausdünstungen.
Dann endlich schlossen sich die Türen, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Anna atmete auf und führte während der gesamten Fahrt Selbstgespräche, um sich abzulenken und Ruhe zu bewahren. Am Union Square stieg sie die Stufen hinauf und war erleichtert, endlich wieder frische Luft zu atmen und nicht mehr das Gefühl zu haben, ersticken zu müssen. Sie zog ihr Top ein Stück von der Haut ab und genoss die Kühle der leichten Brise.
Du schaffst es , sagte sie sich. Du musst es schaffen, nicht in Panik zu verfallen.
Sie spähte zu Barnes & Nobles hinüber und spürte plötzlich den Wunsch, den heutigen Morgen damit zu verbringen, Kaffee zu trinken, in Bildbänden zu blättern und sich Fotos von einsamen Stränden oder idyllischen Berglandschaften anzuschauen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie atmete tief ein und ging auf das W Hotel zu. Dann stand sie vor dem Fenster und beobachtete die Menschen, die sich an der Bar versammelt hatten. Sie erkannte den Hinterkopf des Fotografen Marc Lunel, sein langes, glänzendes schwarzes Haar und die rote Schnalle auf seinen Prada-Schuhen. Sie sah vier Models, zwei Visagisten, zwei Hairstylisten, die Praktikantin von Vogue Living … Alle warteten darauf, dass sie die Leitung der Aufnahmen übernahm.
Anna betrachtete ihr Spiegelbild auf der Glasscheibe, ihre müden Augen, die heruntergezogenen Mundwinkel, die Schweißperlen auf der Stirn.
Dann drehte sie sich um und winkte das erste Taxi heran, das vorbeikam, bevor die Panikattacke sie mit aller Macht überfallen konnte.
Als Joe an seinen Schreibtisch zurückkehrte, lag dort ein weißer Briefumschlag, der abgestempelt und mit seiner Adresseversehen war. Was Joe an
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