Blutbeichte
die Stirn. »Es tut mir leid. Kannst du dich noch an deinen Anfall erinnern?«
Mary schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Ist schon okay. Mach dir keine Sorgen. Vielleicht erinnerst du dich später wieder.«
»Was ist passiert?«
»Du warst allein. Und du hattest einen Anfall … Als ich zu dir kam, lagst du auf dem Boden. Ich habe den Arzt gerufen.«
Mary runzelte die Stirn. »Was habe ich getan?«
»Nichts. Du warst bloß weggetreten.«
»Seltsam. Habe ich etwas gesagt?«
»Kein Wort. Das hier lag auf deinem Schreibtisch, als ich kam.« Magda reichte Mary ein Blatt Papier. Mary runzelte die Stirn, als sie daraufblickte und ihre Handschrift wiedererkannte. Sie erinnerte sich an die Vorlesungen, als sie versucht hatte, alles geistig in sich aufzunehmen und gleichzeitig mitzuschreiben. Die Worte waren mit dicker schwarzer Tinte geschrieben und über die ganze Seite verteilt: Schatten. Abwesenheit. Verlust. Kann mich nicht bewegen. Verlust. Allein. Kann mich nicht bewegen. Rot. Kalt.
Sie hob den Blick zu Magda, um die aufsteigende Panik zu bekämpfen. »Hast du das gelesen?«
Magda nickte.
»Das ist verrückt. Was bedeutet das?« Mary las die Wörter noch einmal.
»Es ist bloß ein böser Traum, mein Schatz. Du hast es vermutlich kurz vor deinem Anfall geschrieben.«
»›Schatten … Verlust … kann mich nicht bewegen … allein.‹« Sie schüttelt den Kopf. »Das hört sich gruselig an.«
»Es war nur ein Albtraum«, beruhigte Magda sie. »Kein Grund zur Sorge.«
»Ich muss wissen, was das alles zu bedeuten hat.« Marys Stimme wurde eine Spur lauter.
»Es hat gar nichts zu bedeuten. Es sind bloß wirre Gedanken, die du offenbar vor deinem Anfall aufgeschrieben hast. Hirngespinste. Lass dich davon nicht verrückt machen.«
Als Marys Blick auf ein anderes Blatt Papier fiel, drehte Magda sich rasch um und streckte die Hand danach aus, doch Mary bekam es zuerst zu fassen. In der Mitte standen drei Wörter: Alles. Meine. Schuld. Unten stand Davids Name, wie sie ihn zu schreiben pflegte – mit einem großen Bogen über dem kleinen d, der bis zum Anfangsbuchstaben geschwungen war.
Sie begann zu zittern. Magda wollte ihr das Blatt aus der Hand nehmen.
»Nein«, stieß Mary hervor und hielt es krampfhaft fest. »Nein.«
Julia Embry blickte sich in dem Raum um, in dem sich die neunzehn Bewohner des Colt-Embry-Heimes versammelt hatten.
»Guten Morgen, meine Lieben. Danke, dass ihr alle gekommen seid«, sagte sie. »Ich wollte, es wäre mir erspart geblieben, aber ich habe leider eine schlechte Nachricht für euch. Mary Burig hat am Montag ihren Bruder David verloren. Einige von euch werden es bereits in der Zeitung gelesen haben. Er wurde ermordet.«
Die meisten schienen es schon zu wissen, denn sie reagierten weder überrascht noch schockiert.
»Ich sage euch das, weil einige von euch David gekannt haben. Außerdem ist es sehr wichtig, dass wir alle für Mary da sind. Sie ist völlig mit den Nerven runter. Es geht ihr gar nicht gut. Heute Morgen ist sie in ihrer Wohnung geblieben. Sie braucht Zeit, um zu trauern.«
Julia ließ den Blick in die Runde schweifen. Einige Anwesende weinten.
»Ich weiß, was es bedeutet, einen geliebten Menschen zu verlieren. Vor zehn Jahren starb mein Sohn Robin.« Julia senkte den Blick. »Ich habe ihn sehr geliebt. Er war erst siebzehn Jahre alt. Ich dachte, ich würde nicht darüber hinwegkommen. Aber ich habe es geschafft – hier bin ich. Und auch ihr seid noch immer alle hier. Einige von euch haben Menschen bei einem Unfall verloren, der euch selbst hierher geführt hat. Einige von euch haben ihren Verlobten, ihren Ehemann, ihre Frau oder liebe Familienangehörige verloren. Ich weiß, es ist sehr schwer, damit fertig zu werden. Gerade war eure Welt noch in Ordnung, und im nächsten Augenblick ist alles anders. Vielleicht sind ein Mann oder eine Frau, die ein Bier zu viel getrunken und sich hinters Steuer gesetzt hatten, der Grund dafür, warum ihr hier seid. Nun, so etwas können wir nicht beeinflussen. Wir alle sind jetzt zusammengekommen, weil wir an Marys Schicksal Anteil nehmen. Ich weiß, dass ihr genug eigene Probleme habt, aber wir müssen uns nun um Mary kümmern, denn sie leidet im Augenblick sehr.
Wir sollten uns immer wieder in Erinnerung rufen, dass wir nicht durch die Dinge definiert werden, die uns zugestoßen sind. Und gewiss nicht durch die negativen Dinge. Ihr möchtet nicht, dass andere euch nur als Menschen betrachten, die geschädigt sind, weil sie
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