Blutbraut
verlassen war. Genau wie jetzt wieder. Und wie vergangene Nacht erinnerte ich mich selbst daran, dass er – zumindest soweit ich das zu beurteilen wagte – tagsüber weitestgehend ›ungefährlich‹ war und er mir versprochen – versprochen! – hatte, bis Sonnenuntergang wieder hier zu sein. Und dass Cris gesagt hatte, sein Bruder würde sein Wort immer halten; egal um welchen Preis.
Ich griff nach meinem Messer und klappte es zu, legte es auf den Nachttisch, während ich mich zugleich zum Bettrand schob und die Beine darüberschwang. Aber vielleicht würde er den versprochenen Ausflug gar nicht mehr mit mir unternehmen wollen, jetzt, nachdem ich so gnadenlos verschlafen hatte. Warum hatte er mich nicht wie sonst auch immer kurz nach Sonnenaufgang geweckt? Weil er sich noch immer nicht in meine Nähe wagte? Ein Rascheln lenkte meine Aufmerksamkeit zur Tür – und auf ein zusammengefaltetes Blatt Papier, das anscheinend jemand darunter hindurchgeschoben hatte und das eben in einem nicht existenten Luftzug ein kleines Stück weit aufflappte, bevor die obere Hälfte wieder auf die untere sank. Lavendelduft wehte zu mir. Rosa.
»Guten Morgen.«
Der Vorhang bauschte sich. Ich konnte das Lächeln nicht unterdrücken. Okay, damit war ich dann wohl genauso verrückt wie er.
Ich ging zur Tür und hob den Zettel auf. Unter meiner Nachricht von letzter Nacht waren jetzt zwei weitere Zeilen:
Du musst dich zu nichts verpflichtet fühlen. Ich könnte ein Nein gut verstehen. J.
Das hieß, er war hier gewesen. Hatte er doch versucht, mich zu wecken, und ich hatte zu fest geschlafen, um sein Klopfen zu hören? Und nachdem es inzwischen bereits weit nach Sonnenaufgang war: Nahm er an, ich würde die Chance nutzen, die er mir bot, und einen Rückzieher machen? Ich sah noch einmal auf den Zettel, dann legte ich ihn auf den Sekretär und marschierte entschlossen ins Bad. Auch wenn ich es irgendwie selbst nicht verstand: Diese beiden Zeilen gaben den Ausschlag. Ich wollte das ›alte‹ Santa Reyada sehen. Und ich wollte, dass er es mir zeigte.
So schnell ich konnte, duschte ich und zog mich an. Helle, luftige Sachen mit langen Ärmeln, dazu Socken und Schuhe bis über die Knöchel, hatte er gestern gesagt, als er mich für den Ausflug zum Umziehen geschickt hatte. Letztere waren kein Problem. Nur die ›hellen Sachen‹ waren immer noch dunkelgrau. Sah man einmal von dem Kleid ab, das Cris mir gestern gekauft hatte, war das ›luftigste‹ Kleidungsstück, das ich besaß und das sich in diesem Zimmer befand, die schwarze Spitzenbluse, die ich bei meiner Ankunft hier getragen hatte. Und die es in den vergangenen Tagen auf wundersame Weise in diesen Kleiderschrank geschafft hatte. Gewaschen. Allerdings würde ich mir in ihr vermutlich ebenso schnell einen Sonnenbrand holen wie nur in einem Trägertop. Die übrigen Stücke aus dem gestrigen Shoppingtrip lagen vermutlich immer noch unten in der Halle. Nicht dass auch nur eines davon für einen Ausflug, der sich für mich mehr nach ›Hiken‹ als nach ›Spazierengehen‹ angehört hatte, sonderlich geeignet war. Nun ja, ich würde es überleben. Ich kramte ein weiteres Shirt aus dem Schrank – das hellste und dünnste, das ich finden konnte – und zog es über das Top. Die nassen Haare band
ich der Einfachheit halber zu einem Pferdeschwanz zusammen. Außerhalb dieses Hauses würden sie auch so sehr schnell getrocknet sein. Das Blatt Papier mit meiner und seiner Nachricht steckte ich in die Hosentasche. Zusammen mit meinem Springmesser.
Als ich die Tür öffnete, hielt ich überrascht inne: Mein Spitzentuch war um die äußere Klinke geschlungen. Vorsichtig machte ich es los, faltete es einmal zusammen und hängte es ebenso vorsichtig über die Lehne des Stuhles vor dem Sekretär. Dann ging ich hinunter. Rosa blieb die ganze Zeit dicht bei mir.
Schon auf dem Weg zur Küche hörte ich seine Stimme. Es klang, als würde er mit jemandem telefonieren. Im Durchgang blieb ich stehen, mit einem Mal beklommen. Auf dem Tresen wartete wie immer mein Frühstück auf mich. Diesmal ergänzt von den Resten meiner Geburtstagstorte. Joaquín saß unten im Essbereich, das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, und gab anscheinend irgendjemandem Anweisungen. Und unterbrach sich mitten im Satz, sah auf und zu mir her. Der Tisch vor ihm war mit Papieren bedeckt und das Ding, auf dem er gerade noch herumgetippt hatte, musste einer dieser Tablet-PCs sein. Ich versuchte ein Lächeln. Und
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