Blutbraut
musst hier niemandem etwas beweisen, Lucinda. Ich weiß, dass du zäh bist …«
»Ich möchte aber die Pferde sehen.« Hoffentlich hatte ich nicht allzu sehr wie ein kleines Mädchen geklungen, das auf dem Rummel um Zuckerwatte bettelte.
»Die …« Auch die zweite Braue schoss in die Höhe. Er rieb sich über den Mund. So, dass man hätte meinen können, er versuche ein Lachen hinter der Bewegung zu verbergen. Doch dann ließ er die Hand sinken und schüttelte den Kopf. Von Lachen keine Spur mehr. »So leid es mir tut, aber ich fürchte, ich muss dich enttäuschen. Vermutlich hat er die Herde bis zum
anderen Ende des Cañons getrieben, wenn nicht sogar aus ihm heraus. Wenn wir heute Nacht hier campen könnten, würde ich sagen: Okay, versuchen wir es. Aber so? Nein. Das ist zu weit. Das schaffen wir nicht. Noch nicht mal die Hälfte. Nicht, wenn wir vor Sonnenuntergang wieder auf Santa Reyada sein wollen, wie ich es dir versprochen habe. Und wir müssen für den Rückweg ohnehin mehr Zeit einkalkulieren als für den Hinweg.«
»Warum?«
»Weil du müde sein wirst.«
»Ich werde nicht …« Jetzt klang ich wirklich wie ein störrisches Kind vor dem Zuckerwattestand.
»Doch, du wirst. Daran ist nichts Verwerfliches. Das ist vollkommen normal.«
Ich biss mir auf die Lippe. Er hatte recht. Ich mochte mich heimlich in Fitnessstudios schleichen und, wenn ich die Möglichkeit hatte, früh morgens laufen gehen, aber das hier war etwas anderes. Ich war ein Stadtkind, das nicht jeden Tag – oder wenigstens einmal die Woche – stundenlang in der Wildnis hiken ging. Sehnsüchtig blickte ich den Cañon hinab. »Können wir es nicht wenigstens versuchen?«, fragte ich nach einem Moment schließlich doch leise.
Die Bewegung, zu der er ansetzte, konnte nur ein Kopfschütteln werden, aber dann hielt er inne, sah mich nachdenklich an. Und nickte schließlich abrupt. Wie gegen besseres Wissen. »Also gut. Vorschlag: Wir gehen bis hinter die Spitze. Vielleicht haben wir Glück und er hat die Herde doch nicht ganz so tief in den Cañon geführt. Da können wir auch ganz gut Pause machen, damit du dich ein bisschen erholen kannst. Sind sie dort nicht, gibt es trotzdem keine Widerrede, wenn ich sage, wir gehen zurück.« Er hielt mir die Hand hin. »Deal?«
Hastig schlug ich ein. Nicht, dass er es sich am Ende doch noch anders überlegte. »Deal!«
Er war es, der unseren Händedruck nach kaum mehr als einer flüchtigen Berührung brach und zurücktrat. »Dann lass uns gehen. Es wird zeitlich ohnehin knapp genug werden.« Wieder einer dieser nachdenklich-abschätzenden Blicke. »Aber vielleicht solltest du vorher doch noch einen Happen essen. – Sandwich?« Mein Magen schien das für sein Stichwort zu halten. Hastig drückte ich meine Hand abermals auf meine Mitte, um sein Knurren zumindest ein klein wenig zu dämpfen, während ich nickte.
»Was hast du?«
»Roastbeef, Tomate mit Mozzarella, Hühnchen …«
»Hühnchen, bitte.« Warum wunderte es mich eigentlich nicht, dass er anscheinend genau wusste, welche Art Sandwiches ich am liebsten mochte?
Er musste nicht lange im Rucksack suchen, bis er das Gewünschte gefunden hatte.
Nach zwei Bissen verdrängte ich eine weitere Frage: Wie konnte jemand wie er so geniale Sandwiches machen? Wir gingen schon weiter, als mir bewusst wurde, dass er sich keines genommen hatte.
Zwei Stunden und ein weiteres Sandwich später begannen meine Beine langsam, aber unaufhaltsam immer schwerer zu werden.
Wir hatten die Felsspitze schneller erreicht, als ich für möglich gehalten hatte. Mehrere Minuten hatte ich an ihrem Fuß gestanden und an ihr entlang nach oben gesehen. In einen komplett wolkenlosen Himmel, der von einem Blau war, wie
ich es noch an keinem anderen Ort gesehen hatte. Und hatte versucht, mir diesen Anblick ebenso einzuprägen wie schon an unzähligen Stellen zuvor. Dass ich dabei ziemlich wackelig auf einem Steinblock mitten im Wasser balanciert hatte, weil die Felswände nur noch wenige Meter voneinander entfernt waren und es hier noch nicht einmal mehr ein Ufer gab, hatte mich nicht interessiert.
Letztlich waren wir weiter in die zweite Hälfte des Cañons vorgedrungen, als ich zu hoffen gewagt hatte. Dabei hatte ich kein Wort gesagt, das auch nur annähernd in die Richtung von ›bitte‹ oder ›können wir nicht‹ gegangen wäre. Allerdings hatte ihm meine Enttäuschung vermutlich gar nicht entgehen können, als wir die Spitze hinter uns gelassen hatten
Weitere Kostenlose Bücher