Blutbraut
Ort für eine Lösegeldübergabe. Abgelegen. Verlassen. Und trotzdem … Auf einmal war da eine Stimme in meinem Kopf, die ›Lauf!‹ schrie. Sehr laut!
Sie wurde noch lauter, als Cris abrupt seine Tür aufstieß und ausstieg.
Und statt nach hinten zum Kofferraum zu gehen, um die Schnauze des Porsche herumkam.
Auf meine Seite.
Bei meiner Tür stehen blieb.
Sie öffnete.
»Steig aus.« Er hielt mir die Hand hin, um mir dabei zu helfen, warf dabei einen flüchtigen Blick auf seine Uhr. »Er müsste eigentlich schon da sein.« Er sagte es so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es überhaupt hatte hören sollen.
›Er müsste eigentlich schon da sein.‹ Schlagartig war mir schlecht. Das konnte nur eins bedeuten: Es würde keine Lösegeldübergabe geben. Ich würde nichts unter irgendeinen bestimmten Baum stellen und wir würden nicht weiterfahren, um dann irgendwelche weiteren Instruktionen zu bekommen. Ich schluckte den üblen Geschmack hinunter, der plötzlich in meinem Mund war. Cris wollte sich mit jemandem hier treffen. Die Sache mit dem Lösegeld war eine Lüge gewesen. Um mich dazu zu bringen, ihn hierher zu begleiten. Oder? ›Er müsste eigentlich schon da sein‹, hatte er gesagt. Welche Erklärung sollte es sonst dafür geben? Für eine Sekunde schloss ich die Augen. In meinem Inneren hing ein nur zu vertrautes Zittern. Er hatte es wieder getan. Er hatte mich wieder getäuscht; mich wieder …
»Verräter!« Ich hatte erwartet, meine Stimme würde schwach und hilflos klingen; sie war ein scharfes, wütendes Zischen. Es ließ Cris zusammenzucken, als hätte ich ihn geschlagen. Also hatte ich tatsächlich recht.
»Es ist nicht, wie du denkst …«
Mein hartes Lachen schnitt ihm den Satz ab. »Ach ja? Dann hast du mich nicht angelogen? Dann hast du hinten wirklich das Lösegeld für deinen Bruder? Dann werde ich wirklich einen Koffer unter einen Baum stellen und wir fahren weiter?« Angewidert schüttelte ich den Kopf. »Halt mich nicht für blöd, Cris. Möglich, dass es sogar stimmt, dass irgendjemand Joaquín
entführt hat. Aber eine Lösegeldforderung hat es nie gegeben. Deshalb sollte Rafael auch nichts davon wissen.« Die Hände zu Fäusten geballt, stieg ich aus. Hatte ich eine andere Wahl? Seine ausgestreckte Hand ignorierte ich. »Das alles war gelogen. Von vorne bis hinten. Und jetzt sag mir noch mal, dass es nicht so ist, wie ich denke. – Und sieh mir dabei in die Augen, wenn du kannst.«
Er tat es. Geradezu trotzig. »In Ordnung, ja, es gab keine Lösegeldforderung.« Seine Knöchel wurden weiß, so fest umklammerte er den Türholm. »Aber das alles geschieht trotzdem, um Joaquín zu retten.«
Ich wurde still. Er log. Es konnte gar nicht anders sein. Er hatte die ganze Zeit gelogen. Warum sollte er ausgerechnet jetzt die Wahrheit sagen?
Er streckte die Hand nach mir aus. Ich machte einen hastigen Schritt zur Seite. Er ließ sie wieder fallen. »Bitte, Lucinda, glaub mir. Es ist wirklich nicht so, wie du denkst.« Sein Ton hatte beinah etwas … Hilfloses. »Er will uns nur helfen.«
»Uns? Wobei will ›er‹ ›uns‹ denn ›nur‹ helfen?«
»Joaquín. Er will Joaquín helfen. Er kennt einen Weg, um zu verhindern, dass Joaquín endgültig Nosferatu wird.« Cris schloss meine Tür.
Etwas an dem Zittern in meinem Inneren veränderte sich. Wenn das wahr wäre … Aber warum hatte Joaquín dann nicht auch etwas von diesem Weg gewusst? Oder zumindest in Erfahrung bringen können?
»Und wer ist ›er‹?«
Zentralverriegelung und Alarmanlage des Porsche blinkten auf. »Mein … unser Großvater. Er will sich hier mit uns treffen. «
»Großvater?« Bis eben hatte keiner der beiden auch nur ein Mal einen ›Großvater‹ erwähnt. Natürlich mussten sie irgendwann mal einen gehabt haben. Dass ich mich nicht an ihn erinnerte, musste nichts bedeuten. Aber da ihr Vater, Estéban, tot war, war ich wohl irgendwie davon ausgegangen, dass es außer Joaquín und Cris niemanden mehr aus der Familie de Alvaro gab. Und jetzt war da ein ›Großvater‹.
Er nickte, sein Blick ging über mich hinweg. »Er kann dir das alles viel besser erklären.« Das Geräusch eines Automotors. Der näher kam. Ziemlich schnell. Plötzlich wurde sein Ton drängend. »Bitte, vertrau mir. Dir wird nichts geschehen. Ich schwöre es dir!«
Wie oft hatte er mir das schon versprochen? Reifen knirschten auf dem Kies. Ich drehte mich um. Ein dunkler Van mit schwarz getönten Scheiben hielt auf uns zu. Die
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