Blutbraut
ließ den Stoff los, trat zurück, während er es aus der Tasche zog, ging ran, hörte schweigend zu, hob eine Braue, ließ es sinken, räusperte sich. »Ich glaube, das nennt man Dominoeffekt. Das alte Stadthaus ist gerade eingestürzt.«
»Cris!« Erschrocken blickte ich Joaquín an. Der war zu der zusammengebrochenen Betonröhre herumgefahren, als erwarte er, über sie hinweg das alte Haus seiner Familie sehen zu können. Oder seinen Bruder. Schlagartig unter der Staubschicht leichenblass. Jorge fasste ihn am Arm, als er einen Schritt auf die Röhre zumachte, sagte etwas auf Spanisch zu ihm. Joaquín drehte sich zu ihm um, langsam wie … benommen.
»Vielleicht war er ja schon raus.« Ich klang so zittrig, wie ich mich plötzlich fühlte. Joaquíns Augen irrten zu mir.
»Heißt das …« Rafaels Blick ging zwischen Joaquín und mir hin und her. »… Cris war doch noch im Haus?«
Beklommen nickte ich. Nur um gleich darauf den Kopf zu schütteln. »Er wollte direkt nach oben gehen und dann sofort das Haus verlassen. Vielleicht … hat er es ja geschafft?«
Rafael sah ein weiteres Mal von mir zu Joaquín, dann hob er das Handy erneut ans Ohr. Abermals sprach er spanisch.
Schnell, scharf. Lauschte immer wieder – und legte schließlich irgendwie zögernd auf. »In der letzten halben Stunde hat niemand das Haus oder das Gelände verlassen. Zumindest nicht auf offiziellem Weg.« Er schob das Handy in die Hosentasche. »Das muss aber nichts heißen. Hermes …«
»Ich brauche einen Wagen.« Joaquín streckte Jorge fordernd die Hand hin.
Der zuckte regelrecht zusammen. »Patron …«
»Vergiss es.« Entschieden schüttelte Rafael den Kopf. »Polizei und Feuerwehr sind offenbar schon im Anmarsch. Vermutlich ist da in spätestens fünf Minuten die Hölle los. Hermes und seine Leute bleiben vor Ort und behalten alles im Auge. Wenn Cris noch dort ist, erfahren wir es sofort. Wir bringen dich und Lucinda erst mal zurück nach Santa Reyada.«
Für eine Sekunde presste Joaquín die Lippen zu einem harten Strich zusammen. »Die Schlüssel, Jorge!«, verlangte er dann von Neuem, sah dabei weiter Rafael an. »Ich kann nicht …«
»Was? – Was kannst du nicht? Mal nicht der große Macher sein, der alles kontrolliert? Mal nicht der sein, der den Kopf für andere hinhält? Mal nicht der sein, der für alles und jeden die Verantwortung übernimmt?« Mit einer ärgerlichen Bewegung schnitt Rafael mit der Hand durch die Luft. »Verdammt, Joaquín, wem willst du etwas beweisen? Wir alle wissen, wozu du fähig bist; wer du bist. – Schau dich an, in Gottes Namen! Ich weiß nicht genau, was du getan hast, geschweige denn, was in diesem verdammten Haus passiert ist, aber nach dem, was ich hier sehe, bist du hart an die Grenze gegangen. Und ehrlich gesagt warte ich gerade nur noch darauf, dass dich der Rückschlag erwischt. Was willst du dann …«
Joaquín bleckte die Zähne. »Cris ist nur in diesem elenden
Haus geblieben, um uns einen Vorsprung zu verschaffen. Ich kann ihn nicht einfach da …«
»Und deshalb willst du zurückgehen, ohne zu wissen, wo du hineinrennst? So? – Cris hat euch diesen Vorsprung nicht verschafft, damit du kehrtmachst, sobald ihr in Sicherheit seid, und das, was er getan hat, doch umsonst war.« Rafael stieß ein hartes Schnauben aus. »Du kannst dort jetzt nichts tun. Vor allem nicht in diesem Zustand.« Er zögerte einen Moment, ehe er weitersprach. »Wenn Cris nicht bis Sonnenaufgang aufgetaucht ist, suchen Jorge und seine Leute noch einmal alles ab. Mit unseren Mitteln.« Erneut schüttelte er den Kopf. »¡Madre de Dios! Lass einmal in deinem Leben zu, dass andere etwas für dich erledigen, zum Teufel noch mal.«
Schlagartig herrschte Totenstille. An Joaquíns Wange zuckte ein Muskel. – Und dann schloss er unvermittelt die Augen, nickte. Es erstaunte mich selbst, aber plötzlich wollte ich ihn in den Arm nehmen und festhalten. Ich rührte mich nicht.
Rafael räusperte sich abermals. »Gut. Wir sollten sowieso zusehen, dass wir hier verschwinden. Bei dem Flurschaden, den ihr«, er schaute mich an, als sei ich ebenso daran beteiligt wie Joaquín, »angerichtet habt, kann es nicht mehr allzu lange dauern, bis die Polizei und der ganze Rest auch hier auftauchen. Und ich glaube, die Fragen, die sie stellen, wenn wir dann noch hier sind, will keiner von uns beantworten.«
Joaquín sagte nichts. Blickte wie zuvor zu den Trümmern des Betonrohres. Regungslos. Sekundenlang … Bis er sich
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