Blutbraut
dünner, ziehender Schmerz durch das Innere meiner Knochen drang.
Ich stolperte, hielt mich an dem Erstbesten fest, das mir in die Hände kam: Rafael.
»Was zum …?«
»Santa Reyada. Es … es weint.« Ich wusste selbst, wie blödsinnig sich die Worte anhörten, aber … anders konnte ich es nicht beschreiben.
Für eine Sekunde waren Rafaels Gesichtszüge regelrecht entgleist, doch er hatte sich verblüffend schnell wieder gefangen.
»Wie lange … spürst du es schon?« Er klang, als sei es das Normalste der Welt, dass jemand von dem Boden unter seinen Füßen wie von einem lebenden Wesen sprach – und auch noch
behauptete, seine ›Gefühle‹ spüren zu können. Sah man einmal davon ab, dass in seiner Stimme der pure Schock mitschwang.
Ich antwortete mehr aus Reflex. »Seit … seit eben. Aber ich glaube … es wird schlimmer.«
Er stieß ein Zischen aus. »Sie müssen tatsächlich im alten Dorf sein. Und sie haben schon angefangen.« Er befreite sich aus meinem Griff, packte mich stattdessen am Arm und zerrte mich neben sich her auf den Helikopter zu.
»Du … du glaubst mir«, stammelte ich fassungslos.
Rafael zwang mich, mich zu ducken. Über uns kreisten die Rotorblätter. Er musste gegen ihren Lärm und den Sturm, den sie verursachten, anbrüllen. »Ich kenne Joaquín verdammt lange. Auf genau diese Weise spricht er immer von Santa Reyada.« Er riss die hintere Tür auf, schob mich ins Innere, beugte sich beinah drohend zu mir, nachdem er hinter mir hereingeklettert war und sie wieder zugeschlagen hatte. »Und DU kannst mir nicht mehr länger erzählen, dass du nicht seine Sanguaíera bist.« Damit knallte er mir ein Headset vor die Brust, zerrte den Sicherheitsgurt um mich, griff sich selbst ein Headset und brüllte »O.k.« hinein, während er sich neben mich auf den Sitz fallen ließ und seinerseits nach den Gurten griff. Beinah in derselben Sekunde zog Lope den Helikopter vom Boden hoch. Als ich keine Minute später hinaussah, huschten die Scheinwerfer bereits über Geröll und Gras. Ich klammerte mich an meinem Gurt fest und versuchte gleichzeitig zu verstehen, was mit mir geschah.
Neben mir hatte Rafael den Laptop auf seinen Knien geöffnet. Angespannt rieb er sich das Handgelenk mit dem zerstörten Tattoo. Auf dem Bildschirm blinkte ein kleiner grüner Punkt.
41
D ie Ruinen von Santa Reyada ähnelten der Kulisse eines Mafiafilms, als wir sie erreichten. Sechs elegante Limousinen parkten mit aufgeblendeten Scheinwerfern großzügig verteilt auf dem Platz vor der Kirche. Ich zählte mindestens fünf mit Maschinenpistolen bewaffnete Männer unter uns, die ihre Waffen in den Anschlag gerissen hatten und zu uns emporsahen. Wie auch immer Rafaels Plan aussah: ›Leise‹ und › heimlich‹ gehörten nicht zur Beschreibung. Dafür ließ er Lope eindeutig zu lange über den Männern in der Luft stehen, bevor er ihn anwies, zu landen. Und den Motor laufen zu lassen.
Kaum stand die Bell, hatte er schon die Tür geöffnet, sprang heraus und half mir ebenfalls beim Aussteigen. Der Boden schien sich unter mir zu schütteln, noch lauter zu klagen und zu stöhnen als schon zuvor. Schmerz grub sich immer tiefer in meine Knochen.
Wie schon vorher legte Rafael mir die Hand in den Nacken, damit ich mich weit genug unter den Rotorblättern duckte. Doch er stoppte mich, als ich auf die Kirche zuhasten wollte.
»Langsam. Die Typen werden nervös genug sein. Wenn du jetzt auf sie zurennst, wird das Ganze hier unberechenbar.« Er musste noch immer beinah brüllen, damit ich ihn über dem Donnern der Rotoren verstehen konnte. Dabei hatte er sich so
dicht zu mir gelehnt, dass er mir fast direkt ins Ohr schrie. »Geh schnell und entschlossen auf die Kirche zu. Das Reden überlässt du mir. Nicht stehen bleiben, egal was sie sagen. Wenn du stehen bleiben sollst, sag ich dir das. Und du rennst, wenn ich dir sage, du sollst rennen. Dein Ziel ist es, in die Kirche zu kommen. Den Rest erledige ich.«
Ich schluckte beklommen. Meine Hände waren schweißnass. Welchen ›Rest‹? Und wie konnte er nur so sicher sein, dass die Sache so lief, wie er sich das vorstellte? Was war, wenn einer der Kerle doch die Nerven verlor?
»Keine Angst, tigresa.« Sein plötzliches Grinsen überraschte mich völlig. »Wie du vorhin so schön gesagt hast: Du bist eine Moreira-Blutbraut. Viel zu wertvoll, als dass sie dich einfach erschießen könnten.«
Eine Sekunde starrte ich ihn an. Na, danke auch. Warum fand ich den Gedanken
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