Bluteis: Thriller (German Edition)
Angst davor hat. Schlimm, wenn man einem Einzelnen aus nächster Nähe dabei zusehen muss. Aber wenn es sich um viele Tote handelt, ein paar tausend Kilometer weit weg, ist es einem gleich.«
Thien Hung Baumgartner hatte alles auf HD-Video aufgezeichnet. Er war hinter Markus Denninger und seinen beiden Kämpfern in das Refuge eingedrungen. Als Schüsse zu hören gewesen waren, hatte Denninger den Befehl zum Angriff gegeben. Sie waren den Gang zum Speisesaal entlanggerannt. Thien war an dessen Eingang hinter einem Getränkeautomaten in Deckung gegangen. Seine Kamera hatte er schnell auf den stummen Getränkeverkäufer gestellt, so dass das Weitwinkelobjektiv den gesamten Saal erfasste. Dann hatte er sich hinter dem Automaten dünn gemacht. Denninger hatte ihm bis zum Schluss das Tragen einer Waffe verwehrt.
Was er gesehen hatte, verwirrte Thien zutiefst. Wieso waren Denninger und seine Männer zusammen mit den beiden Piloten auf den wehrlosen Mann unter dem Tisch weiter hinten losgegangen und hatten ihn regelrecht in Fetzen geschossen? Wie war es möglich, dass diese Frau im Business-Dress die sechs Männer mit ihrem Smartphone wie Roboter steuerte? Was machten diese Leute eigentlich alle hier? Und wer war die schwarze Frau, die hier offensichtlich das Sagen hatte?
Er kannte die Antworten nicht, aber das war auch egal. Er hatte genug gesehen und gehört, um zu begreifen, dass er dieses Smartphone in die Hand bekommen musste.
Die Frau im grauen Kostüm begann auf einmal, die Männer in Mantel und Anzug aufs übelste zu beschimpfte. Bei jedem dieser Anzugträger gab es offenbar etwas, was sie ihm schon immer einmal an den Kopf hatte werfen wollen. Sie geriet so in Rage, dass die schwarze Frau sie wieder an den Schultern packte, um sie zu beruhigen. Sie redete eindringlich auf sie ein und zog sie dann aus dem Saal in Richtung des Automaten, hinter dem sich Thien versteckte. Thien hörte die schwarze Frau sagen: »Jetzt hol die anderen, wir sind gleich auf Sendung.«
Das Blut hämmerte ihm in den Schläfen, als er begriff, dass sich ihm die Chance zu einem Überraschungsangriff bot. Wenn die beiden nah genug herankamen, konnte er das schwarze Umhängeband der Kamera packen und die gut anderthalb Kilo Gewicht der guten alten EOS-1D aus zwei Metern Höhe auf die Köpfe der Frauen dreschen. Die Kamera würde es nicht überstehen, aber es war sowieso Zeit für ein neues Gerät.
Die beiden Frauen waren nur noch vier Meter vom Ausgang entfernt. Thien spannte alle Muskeln an und lauerte wie eine Katze vor dem Mausloch. Er würde hinter dem Getränkeautomaten hervorspringen, nach dem Kameraband greifen und in dem Moment, als sein Standbein Halt gefunden hatte, mit der Kamera zuschlagen.
Die beiden Frauen kamen näher …
… näher …
Jetzt …!
Sonntag, 7. April, 10 Uhr 04
Hotel Schloss Osterbach
»Hier geht es nicht raus, sehr geehrte Frau Kanzlerin«, höhnte Alexandre d’Annecy. Neben ihm stand auf einmal eine Handvoll junger Menschen, die alle eine Pistole in der Hand hielten. »Und es wird Sie auch niemand befreien«, fügte d’Annecy hinzu. »Die Sicherheitsleute patrouillieren brav um das Haus herum. Hier hört Sie niemand.«
Die Konferenzteilnehmer begannen auf ihren Mobiltelefonen herumzutippen. Bis sie sich erinnerten, dass bei ihren Meetings Störsender aus Gründen der Abhörsicherheit die drahtlose Kommunikation unterbanden.
»Wir dürfen Ihnen nun den neuen Harten Kern der Osterbacher vorstellen. Wir sind live mit dem Refuge du Goûter verbunden, wohin sich der alte Harte Kern heute Morgen per Helikopter zurückgezogen hat. Dort ist auch die Neubesetzung des Harten Kerns untergebracht.«
D’Annecy klickte auf die Fernbedienung des Projektors, und auf der großen Leinwand erschien die Innenansicht des Refuge de Goûter, aufgenommen von einer Webcam, die irgendwo im Gebälk des Speisesaals installiert sein musste.
Auf leicht pixeligen, aber flüssigen Bildern sah man jedoch keine Menschen, die so aussahen, als wären sie die neuen Herren über die Osterbacher und damit über die Welt. Vielmehr war zu sehen, wie ein Mann in Skikleidung mit einer schwarzen Keule, die ein Morgenstern sein mochte, auf zwei Personen eindrosch. Einer der Getroffenen, offenbar eine dunkelhäutige Frau, ging sofort zu Boden. Die andere Frau drehte sich blitzschnell zu dem Mann um und packte ihn am Hals.
Ein Aufschrei ging durch die Teilnehmer der Osterbacher-Jahrestagung. »Frau Käppli!«, riefen diejenigen, die die
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